Feind
beobachteten sie den Palast. In der aus Marmor
gefügten Front prangte nach Westen hin ein riesiges Fenster, durch dessen
Scheiben das Glitzern der Essenz drang. Nur am Rand war noch farbiges Glas zu
sehen, ansonsten war es schmucklos ausgebessert worden. Im Süden war ein Balkon
über dem Tal angebracht. Auf diesem standen einige Gestalten, um die
Seelenspiegel herumflogen.
»Sind das Osadroi?«, flüsterte Ajina.
Helion hielt seinen Schild ins Sternenlicht. Der Baum darauf
funkelte dunkelrot wie alter Wein. Das war Antwort genug.
Der Haupteingang lag an der Nordfront, wo auch eine Handvoll
Gardisten Wache stand. Sie waren mit Kettenhemden gepanzert und mit Hellebarden
bewaffnet, zusätzlich trugen sie Schwerter. An der Ausrüstung jener, die die
Unsterblichen schützten, wurde nicht gespart.
»Sie scheinen ihre Gier nicht bezähmen zu können«, flüsterte Estrog.
Es war seltsam, den Barbaren so leise sprechen zu hören.
Helion folgte seinem Blick, und Deria unterdrückte einen Schrei. Ein
Krieger, der wegen der Verkrüppelung seiner rechten Hand in der Schlacht nur
noch von geringem Wert gewesen wäre, trieb zwei Knaben vor sich her.
Zartfühlend ging er nicht zu Werke. Mit der Linken schlug er eines der Kinder
auf den Kopf, als sein humpelnder Gang ihm nicht schnell genug war.
»Runter!« Helion zog Deria in Deckung. Sie hatten sich die Haut mit
Ruß geschwärzt, aber dennoch konnte der zufällige Blick einer Wache ihre
Entdeckung bedeuten.
»Vielleicht kann man mit ihnen noch etwas anfangen!«, hörten sie den
Krieger rufen. Das Murmeln der Gardisten ließ sich nicht verstehen. Deria
weinte leise.
»Es sind zwei Jungen. Deine Tochter ist nicht dabei«, flüsterte
Helion.
»Auch diese Kinder haben Mütter«, gab sie zurück.
Estrog zeigte sich unbeeindruckt. »Jedenfalls sind sie abgelenkt.
Das mag die beste Gelegenheit sein, die wir bekommen.«
Rasch verließen sie ihre Deckung und liefen zur Westwand, wo sie
unterhalb des großen Fensters, verborgen hinter einem Gebüsch, das im Sommer
bunte Blüten tragen mochte, eine Tür fanden, die so unscheinbar war, dass sie
nur für Dienstboten bestimmt sein konnte. »Da lobe ich mir, dass die Ondrier
die Schatten so verehren, dass sie Fackeln nur sparsam einsetzen«, flüsterte
Helion. Wäre die Umgebung des Palastes ausgeleuchtet gewesen, hätten sie
unmöglich kampflos so weit vordringen können.
Die Tür war verschlossen. »Es ist nicht zufällig jemand unter uns,
der sich auf das Öffnen von Schlössern versteht?«, fragte Helion.
»Ich kann Eisen zum Schmelzen bringen«, sagte Modranel. »Aber die
Osadroi würden das Fließen meiner Magie bemerken.«
»Wer achtet bei dem Schlachtenlärm um uns herum schon auf brechendes
Holz?«, fragte Estrog und trat die Tür ein. Er musste sich bücken, um durch die
Öffnung zu passen.
Helion zog sein Mondsilberschwert. Er bildete den Abschluss der
Gruppe, unmittelbar hinter Modranel.
»Ich ertaste Säcke und Regale«, meldete Deria, als sie sich in einem
vollkommen dunklen Raum wiederfanden. »Das scheint eine Vorratskammer zu sein.«
»Weiter!«, zischte Helion.
Er hatte gehofft, dass sie noch etwas näher an Lisanne herangekommen
wären, bevor sie von Gardisten gestellt wurden. Aber die Wache vor dem
Haupteingang war nur ein kleines Kontingent. Offensichtlich war das Haus
dermaßen überfüllt mit Bewaffneten, dass sie in den Fluren und Hallen lagern
mussten. Jedenfalls, wenn man nach dem Gang urteilte, in den die Tür der
Vorratskammer führte. Das Licht der bronzenen Schalen, die von der Decke
hingen, fiel auf ein Dutzend dunkel gewandeter Krieger. Die meisten von ihnen
saßen auf dem Boden, an die Wände gelehnt, spielten Würfel oder zogen
Schleifsteine über Klingen.
Estrog bewies seine Kampferfahrung, indem er ihre Überraschung
ausnutzte. Brüllend schlug er seine Doppelblattaxt in die Brust des Ersten, der
für ihn erreichbar war. Das Kettenhemd hielt, was aber nichts nützte, weil die
Rippen zwischen der schweren Waffe und der Wand zermalmt wurden. Ein Schwall
Blut schoss aus dem Mund des Mannes. Bevor er auf den Marmorboden klatschte,
trat Estrog schon nach dem nächsten.
Rüde stieß Helion Modranel beiseite, um dem Barbaren beizustehen. Er
erreichte ihn gerade rechtzeitig, um mit seinem Schild den Hieb eines
Kurzschwerts vor seinem Rücken abzufangen. »Ihr bietet einfach zu viel
Angriffsfläche!«, beschwerte er sich und stach zu. Die rote Mondsilberklinge
zwang die Ringe des Kettenhemds weit
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