Feinde der Krone
»Er war ganz anders, als ich mir einen Polizisten vorgestellt hatte. Obwohl er sich äußerst ruhig und höflich verhalten hat, war mir in seiner Gegenwart unbehaglich. Es wäre mir am liebsten, wenn er nicht wiederkäme, aber ich fürchte, dass er es doch tun wird. Es sei denn, sie kommen sehr schnell dahinter, wer es getan hat. Bestimmt war es der Mann, der Maude Lamonts Fähigkeiten bezweifelte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es der Soldat war, der mit seinem Sohn sprechen wollte. Ihm ist die Sache ebenso wichtig wie mir.«
Emily wusste nicht, was sie denken sollte. Sie hatte keine Vorstellung, wovon Rose sprach, doch war dies nicht der richtige Augenblick, das zuzugeben. »Und was wäre, wenn etwas dabei herauskäme, was ihm nicht gefiele?«, fragte sie leise.
Rose erstarrte mitten in der Bewegung, einen Rittersporn in der Hand. Ihr Gesicht wirkte verkniffen, ihre Augen gequält. »Dann wäre er wohl sehr niedergeschlagen«, sagte sie mit belegter Stimme. »Er würde verzweifelt nach Hause gehen … versuchen, darüber hinwegzukommen. Ich weiß allerdings nicht wie. Was tut man, wenn man … etwas Unerträgliches erfährt?«
»Manche Leute schlagen in einem solchen Fall zurück«, gab Emily zur Antwort. Dabei sah sie Rose an, die steif dastand, den Rücken ihr halb zugekehrt. »Und wäre es nur, um sicher zu sein, dass kein anderer das Unerträgliche ebenfalls erfährt.« Ihre Vorstellungen überschlugen sich, trotz des Mitgefühls für die unübersehbare Seelenqual der Freundin. Wer waren diese Männer? Welchen Grund hätten sie haben können, das Medium zu töten? Auf welches Geheimnis war Rose da gestoßen?
»Das hat mir der Polizist auch zu verstehen gegeben«, sagte Rose nach einer Weile.
Da Emily wusste, dass Tellman nach Pitts Entlassung befördert worden war, fragte sie: »Inspektor Tellman?«
»Nein … er hieß Pitt.«
Langsam stieß Emily die Luft aus. Jetzt wurde ihr vieles in entsetzlicher Weise klar. Zweifellos wies der Mord an der Spiritistin politische Dimensionen auf, sonst hätte man Pitt nicht hinzugezogen. Der Sicherheitsdienst hatte aber doch dies Verbrechen nicht voraussehen können – oder doch? Charlotte hatte ihr nur wenig über Pitts neue Aufgabe berichtet, doch war Emily hinlänglich auf dem Laufenden, um zu wissen, dass der Sicherheitsdienst ausschließlich in Fällen von öffentlicher Gewalttat, Anarchie, Gefahr für Regierung und Thron und der sich daraus ergebenden Bedrohung der inneren Sicherheit tätig wurde.
Rose kehrte Emily nach wie vor den Rücken zu. Ihr war nichts aufgefallen. Emily befand sich mit einem Mal zwischen zwei Feuern. Sie hatte Jack gebeten, Aubrey Serracold zu unterstützen, und Jack hatte erkennbar gezögert, auch wenn er es nicht offen zugegeben hatte. Jetzt begriff sie, dass er Recht hatte. Jacks Wiederwahl mit allen Möglichkeiten und Vorteilen, die damit verbunden waren, war ihr selbstverständlich erschienen. Vielleicht war das übereilt gewesen. Es schien Kräfte zu geben, die sie nicht in ihre Rechnung einbezogen hatte, sonst würde sich Pitt nicht mit einem unglückseligen Mordfall wie dem in der Southampton Row beschäftigen, bei dem es um Betrug oder plötzlich aufgeflammte Leidenschaften gehen mochte.
Ein nahe liegender Gedanke kam ihr. Sofern Rose dieser Frau, ohne es zu beabsichtigen, von einem Vorfall aus ihrer Vergangenheit berichtet hatte, irgendeiner Indiskretion oder Torheit, aus der sich politisches Kapital schlagen ließ, lag die Möglichkeit einer Erpressung nur allzu offen auf der Hand. In einem solchen Fall war es leicht möglich, dass es ein Motiv gab, das Medium zu ermorden.
Aufmerksam sah sie Rose an, ihre verwegene Eleganz, das Gesicht, auf dem die leidenschaftlichen Gefühle hinter der dünnen Maske von Kultiviertheit so leicht zu erkennen waren. Zwar tat sie so, als habe sie alles, wonach ihr der Sinn stand, doch litt sie erkennbar unter einer Wunde, wenn auch nicht klar war, worauf diese zurückging.
»Was wolltest du bei Maude Lamont?«, fragte Emily offen
heraus. »Eines Tages wirst du es Pitt sagen müssen. Er wird der Sache so lange nachgehen, bis er es weiß, und dabei wird er allerlei andere Dinge zutage fördern, von denen es dir möglicherweise lieber wäre, dass sie verborgen blieben.«
Rose hob die Brauen. »Tatsächlich? Das klingt ja, als ob du ihn kennst. Hat er dich etwa auch schon einmal befragt?« Sie sagte das in spottendem Ton, um Emilys Aufmerksamkeit von der Hauptsache abzulenken und sie
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