Feinde der Krone
war ihre eigentliche Triebfeder, der Wahrheit nachzuspüren.
Nie hatte sie ernsthaft die Möglichkeit erwogen, Jack könne die Wahl verlieren. Sie hatte lediglich daran gedacht, welche Chancen sich eröffnen würden, und an die mit dem Unterhaussitz verbundenen Vorrechte und Vorteile. Während ihre Kutsche inmitten des Geschreis erzürnter Kutscher langsam voran kam, ging ihr mit Bestürzung auf, dass sie sich im Fall einer Niederlage an eine sicherlich ebenso einschneidende bittere Veränderung würde gewöhnen müssen wie die, mit der sich Charlotte gegenwärtig abfinden musste. Man würde sie zu anderen Gesellschaften einladen, die weit langweiliger waren als jene, die sie gewohnt war. Wie konnte sie nach dem aufregenden Leben inmitten der Politik dem berauschenden Traum von Macht den Rücken kehren und sich wieder mit dem inhaltsleeren Gewäsch der feinen Gesellschaft beschäftigen? Und ganz konkret: wie würde sie ihre eigene Herabsetzung verbergen können, die darin bestand, dass sie nichts Sinnvolles mehr zu tun hatte?
Nein, Jack musste unbedingt gewinnen. Ihre Beweggründe waren ihr durchaus bewusst, doch das war unerheblich. Die Vernunft erreichte die Tiefen ihrer Empfindungen ebenso wenig, wie das Sonnenlicht die Meeresströmungen weit unterhalb der Wasseroberfläche erreicht. Sie musste alles tun, was sie konnte, um ihn zu unterstützen.
Vor allem musste sie unbedingt mit jemandem reden. Charlotte
war in Dartmoor, und sie wusste nicht einmal genau, wo. Ihre Mutter, Caroline, begleitete ihren zweiten Mann Joshua, der zur Zeit in einem von Oscar Wildes Stücken die Hauptrolle spielte, auf seiner Tournee. Gegenwärtig waren sie wohl in Liverpool.
Doch selbst wenn die beiden zu Hause gewesen wären, hätte sie sich zuerst an Lady Vespasia Cumming-Gould gewendet, eine Großtante ihres ersten Gatten und nach wie vor eine ihrer vertrautesten Freundinnen. So beugte sie sich jetzt vor und teilte dem Kutscher ihren Wunsch mit, sie zu Vespasia zu fahren. Zwar hatte sie sich weder schriftlich angemeldet noch eine Visitenkarte hinterlassen, was einen vollständigen Bruch mit der Etikette bedeutete, doch hatte sich Vespasia nie durch Vorschriften daran hindern lassen, genau das zu tun, was sie für richtig hielt, und so würde sie es Emily sicher verzeihen, wenn sie es ihr gleichtat.
Sie hatte Glück. Nicht nur war Tante Vespasia zu Hause, sie hatte auch vor einer halben Stunde ihren letzten Besucher verabschiedet.
»Meine liebe Emily, welche Freude, dich zu sehen«, sagte sie, ohne sich aus ihrem Sessel am Fenster des von Sonnenlicht durchfluteten Wohnzimmers zu erheben, das vollständig in Pastellfarben gehalten war. »Vor allem um diese ungewöhnliche Stunde«, fügte sie hinzu, »denn das zeigt mir, dass dich etwas äußerst Interessantes oder Dringendes zu mir führt. Setz dich, und sag mir, was es ist.« Sie wies beiläufig auf den Sessel ihr gegenüber und betrachtete dann mit kritischem Auge Emilys Kostüm. Ihr Rücken war steif, ihr Haar silbergrau, doch hatte ihr Gesicht nichts von seinem Reiz verloren, der einst dafür gesorgt hatte, dass sie als die bedeutendste Schönheit ihrer Generation galt. Nie war sie der Mode gefolgt, sondern hatte sie stets mitbestimmt. »Das steht dir sehr gut«, sagte sie. »Du hast wohl jemanden besucht, den du beeindrucken wolltest … vermutlich eine Frau, die es in Kleidungsfragen sehr genau nimmt.«
Emily lächelte. Es freute und erleichterte sie, in Gesellschaft eines Menschen zu sein, den sie mochte, ohne dass der geringste Schatten oder auch nur der Hauch eines Missverständnisses
zwischen ihnen lag. »Ja«, gab sie zu. »Rose Serracold. Hast du von ihr gehört?« Gesellschaftlich dürften die beiden einander nicht begegnet sein, denn zwischen ihnen lagen nicht nur fast zwei Generationen, sie gehörten auch äußerst verschiedenen Gesellschaftsschichten an, ganz zu schweigen von der finanziellen Kluft, die zwischen ihnen bestand, auch wenn Aubrey ausgesprochen wohlhabend war. Emily hatte keine Vorstellung davon, ob Vespasia Roses politische Ansichten billigen würde. Gelegentlich vertrat sie selbst ausgesprochen extreme Standpunkte, und sie hatte wie eine Löwin für die Reformen gekämpft, von denen sie überzeugt war. Doch zugleich war sie Realistin und ausgesprochen praktisch veranlagt, und so fiel ihr die Erkenntnis leicht, dass die sozialistischen Ideale mit der Menschennatur unvereinbar waren.
»Und was im Zusammenhang mit dem Besuch bei Mistress Serracold hat
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