Feinde der Krone
»Warum ist er nicht hier?«
»Er ist mit Daniel und Jemima verreist«, sagte Emily und hielt Evie ihre Lieblingspuppe hin.
»Warum?«
»Weil wir es ihm versprochen haben.«
»Warum?«, wollte sie mit unschuldig weit geöffneten Augen wissen.
»Er und Daniel sind gute Freunde.« Als Emily auf diese Weise
daran erinnert wurde, dass man Thomas gehindert hatte, seine Familie zu begleiten, und unverständlicherweise nahezu gleichzeitig seine Wiedereinsetzung als Leiter der Wache in der Bow Street rückgängig gemacht hatte, fiel ihr ein, dass Charlotte mit einem Mal und ohne nähere Erklärung gezögert hatte, Edward mitzunehmen. Halbherzig hatte sie gemurmelt, Thomas werde nicht da sein, und auf die Möglichkeit von Unannehmlichkeiten verwiesen, aber nichts Näheres dazu gesagt.
»Wir sind auch gute Freunde«, sagte Evie, der dieser Ausdruck offenbar gefiel.
»Selbstverständlich, mein Schatz. Du bist meine ganz spezielle Freundin«, versicherte ihr Emily. »Wollen wir ein Bild malen? Ich fange hier an, und du kannst da drüben das Haus malen.«
Begeistert nahm Evie einen Buntstift in die linke Hand und machte sich ans Werk. Emily überlegte, ob sie ihr den Stift in die rechte Hand drücken sollte, unterließ es aber.
Sie machte sich Sorgen wegen Charlotte. Die Umstellung, die damit verbunden war, dass Pitt keine höhere Position bei der Polizei mehr bekleidete, würde ihr sehr schwerfallen. Es war zwar nicht unbedingt eine Stellung, auf die man stolz sein konnte, aber sie war doch recht achtbar. Jetzt tat er etwas, was sie kaum erwähnen konnte, und über seine Fälle durfte man auf keinen Fall reden. Ganz davon abgesehen, wurde diese Tätigkeit sicher auch noch schlechter bezahlt!
Am meisten bedrückte Emily die Unmöglichkeit, selbst etwas zu unternehmen. Früher hatte sie Charlotte geholfen, wenn sich diese an Pitts interessanteren und dramatischeren Fällen beteiligte, sofern es um Menschen aus der höheren Gesellschaftsschicht ging. Sie und Charlotte hatten Zutritt zu den Salons, in die Pitt nie im Leben einen Fuß würde setzen können. Es war ihnen gelungen, einige der sonderbareren Mordfälle beinahe im Alleingang zu lösen, was aber in letzter Zeit immer seltener geschehen war. Jetzt merkte Emily, dass ihr nicht nur Charlottes Gesellschaft und die damit verbundene Spannung fehlte, sondern auch die Teilhabe an aufwühlenden Empfindungen. Um Triumphe ging es dabei zwar seltener
als um Verzweiflung, Gefahr und die Frage, ob schuldig oder nicht schuldig, aber auf jeden Fall hatten ihr diese Dinge tiefere Einblicke ins Leben verschafft als die theoretischen Fragen der Politik, bei denen es stets um Massen und nie um Einzelmenschen ging, eher um Theorien und Gesetze als um das Leben von Männern und Frauen aus Fleisch und Blut, deren Träume und deren Fähigkeit, Lust zu erleben und Qualen zu leiden.
Wenn es noch einmal dazu käme, dass sie Charlotte und Thomas helfen sollte, würde sie das erneut in die Wirklichkeit des Alltags und dessen Erfordernisse führen. Sie sähe sich gezwungen, ihre Grundsätze auf eine Weise zu überprüfen, wie das durch bloßes Nachdenken nie möglich wäre. Sie fürchtete sich davor und fühlte sich gleichzeitig davon angezogen. Charlotte war irgendwo in Dartmoor. Emily hatte die genaue Anschrift nicht; Thomas hatte sich nur sehr ungenau darüber geäußert. Aber auf jeden Fall würde sie selbst zu Rose Serracold gehen, um mehr über den Tod dieses Mediums zu erfahren, das die Freundin aufgesucht hatte – Maude Lamont.
Sie zog sich zum Ausgehen um. Das rosafarbene Kostüm nach der neuesten Pariser Mode mit breiten lavendelfarbenen Streifen auf dem Rock wurde durch eine hohe Halskrause abgeschlossen. Die sanften Farben waren zwar ungewöhnlich, schmeichelten ihrer Erscheinung aber sehr.
Sie absolvierte all ihre Pflichtbesuche bei den Ehefrauen von Männern, mit denen in ständiger Verbindung zu bleiben ratsam war, plauderte über das Wetter und belanglose Neuigkeiten. Den ganzen Nachmittag hindurch widmete sie sich unverbindlichen Themen im vollen Bewusstsein dessen, dass es letztlich nicht darauf ankam, was sie sagte, sondern auf das, was dahinter stand.
Dann endlich konnte sie sich den Fragen zuwenden, die sie seit dem Frühstück beschäftigten. Sie ließ sich von ihrem Kutscher zum Haus der Serracolds fahren. Dort wurde sie in den von Sonnenschein erfüllten Wintergarten geführt, in dem es nach feuchter Erde, Laub und versprühtem Wasser roch. Rose saß allein darin
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