Feinde der Krone
politischen Ansichten ließ vermuten, dass er sich zu einer solchen Haltung veranlasst sehen konnte.
Andererseits förderten Wahlen nun einmal extreme Ansichten zutage. Bei einer drohenden Niederlage kamen oft hässliche Seiten im Charakter eines Menschen zum Vorschein, so wie manche ihren Sieg überraschend aufdringlich herausstrichen, von denen man eigentlich eine großzügige Haltung gegenüber dem Unterlegenen erwartet hätte.
Oder führte die Verbindungslinie zu dem Mann, der seinen Namen hinter einer Kartusche verbarg und möglicherweise ein weit persönlicheres Verhältnis zu dem Medium gehabt hatte? Gab es in dem Fall überhaupt eine Beziehung zu Voisey, oder steckte hinter dieser Mutmaßung lediglich ein Versuch Narraways, dem Mann mit allen verfügbaren Mitteln den Weg an die Macht zu versperren?
Wäre es Cornwallis und nicht Narraway gewesen, hätte Pitt gewusst, dass jeder Schachzug, den dieser unternahm, zwar klug war, aber auch den Regeln entsprach. Cornwallis war durch die harte Schule des Meeres gegangen, ein Mann, der bis zum Schluss kämpfte und dem Gegner dabei ins Auge sah.
Pitt kannte weder Narraways Überzeugungen noch seine Motive und wusste nicht, welche Erfahrungen, Siege und Niederlagen seinen Charakter geformt hatten. Ihm war nicht einmal bekannt, ob Narraway so weit gehen würde, den ihm unterstellten Männern Lügen aufzutischen, um zu erreichen, dass sie taten, was nötig war, damit er seine Ziele erreichte. Pitt tastete sich Schritt für Schritt im Dunklen voran. Um nicht für Ziele missbraucht zu werden, von denen er nicht überzeugt war, musste er zu seiner eigenen Sicherheit sehr viel mehr über Narraway in Erfahrung bringen.
Im Augenblick aber ging es darum festzustellen, warum Roland Kingsley gegen Serracold so ausfallend geworden war. Die Haltung, die er dabei vertreten hatte, entsprach in keiner Weise den Ansichten, die im Gespräch mit Pitt deutlich geworden waren. Hatte ihn die Spiritistin mit der Drohung unter Druck gesetzt, sie werde etwas enthüllen, was ihr bei seinen Fragen an die Toten bekannt geworden war?
Was konnte einen erfolgreichen, praktisch veranlagten Mann – und das schien Kingsley zu sein – überhaupt dazu bringen, ein Medium aufzusuchen? Viele Menschen verloren ihre Söhne und Töchter – gewiss ein trauriges Schicksal, aber die meisten fanden Trost in der Liebe, die sie in der Vergangenheit aneinander gebunden hatte, und in einem festen Glauben an welche Art von Religion auch immer, die ihnen die Überzeugung vermittelte, die göttliche Kraft werde sie eines Tages wieder vereinigen. Sie führten ihr Leben weiter, so gut sie konnten, arbeiteten, wurden von der Liebe anderer getragen, suchten möglicherweise Zuflucht in der Musik, der Literatur, der Einsamkeit der Natur oder widmeten sich der Fürsorge für Menschen, denen es weniger gut ging als ihnen. Auf keinen Fall aber gaben sie sich mit Ektoplasma oder mit Buchstaben- und Zahlentafeln ab, wie sie bei spiritistischen Sitzungen Verwendung fanden.
Was im Zusammenhang mit dem Tod seines Sohnes hatte Kingsley so weit getrieben? Sofern Erpressung im Spiel war – ging sie von Maude Lamont aus, oder hatte das Medium lediglich Angaben an eine andere Person weitergeleitet, an jemanden, der noch lebte und die Möglichkeit hatte, sich diese weiterhin zunutze zu machen?
Konnte dieser Jemand ein Mitglied des Inneren Kreises sein – womöglich Charles Voisey selbst?
Das hätte Narraway am liebsten gesehen, und zwar unabhängig davon, ob es der Wahrheit entsprach oder nicht. Möglicherweise stellte Pitt sich Voisey in einer Rolle vor, die er gar nicht spielte. Auch Furcht konnte ein Teil seiner Rache sein, unter Umständen sogar ein quälenderer als ein Pitt tatsächlich zugefügter Schlag.
Er stand auf und verließ das Haus. Das Geschirr ließ er auf dem Tisch stehen. Mrs. Brody würde es forträumen. Er ging ein ganzes Stück zu Fuß, bis er ins Schwitzen kam. Erst an der Tottenham Court Road winkte er eine Droschke herbei.
Den Vormittag verbrachte er damit, die Personalakte durchzuarbeiten, die beim Militär über Roland Kingsley geführt worden war. Zweifellos hätte Narraway das ebenfalls getan, wenn ihm nicht die Fakten ohnehin schon bekannt waren, doch wollte sich Pitt selbst mit ihnen vertraut machen – immerhin bestand die Möglichkeit, dass er die Angaben anders auslegte als sein Vorgesetzter.
Es gab nur wenige zusätzliche Kommentare. Den Unterlagen zufolge war Roland James Walford
Weitere Kostenlose Bücher