Feinde der Krone
Kingsley mit achtzehn Jahren ins Heer eingetreten, in dem bereits sein Vater und Großvater gedient hatten. Seine Laufbahn umfasste über vierzig Jahre und reichte von der Grundausbildung und seinem ersten Auslandskommando in den Sikh-Kriegen Ende der vierziger Jahre über den Schrecken des Krimkriegs Mitte der fünfziger, in dessen Verlauf er mehrfach im Tagesbefehl lobend erwähnt worden war, bis hin zum unmittelbar darauf folgenden Blutbad des Aufstandes in Indien.
Mitte der siebziger Jahre hatte er in Afrika am Feldzug gegen die Ashanti und am Ende des Jahrzehnts an den Kämpfen gegen die Zulu teilgenommen und war wegen herausragender Tapferkeit ausgezeichnet worden.
Als er danach schwer verwundet nach England zurückkehrte, war er allem Anschein nach auch seelisch ziemlich gebrochen. Er hatte das Land nie wieder verlassen, wohl aber weiterhin pflichtgemäß seinen Dienst versehen, bis er im Jahre 1890 mit sechzig Jahren seinen Abschied eingereicht hatte.
Als Nächstes nahm sich Pitt die Akte von Kingsleys Sohn vor. Dieser war in den Zulu-Kriegen am 3. Juli 1879 beim fehlgeschlagenen Versuch, den weißen Mfolozi zu überqueren, ums Leben gekommen. In dem Gefecht hatte sich Lord William Beresford das Viktoria-Kreuz verdient, die höchste Auszeichnung für Tapferkeit vor dem Feind. Als Opfer eines von den Zulu äußerst raffiniert gelegten Hinterhalts waren zwei weitere Männer getötet und mehrere verwundet worden. Bei Isandlwana hatten sich die Zulu als nicht nur mutige, sondern auch militärisch äußerst fähige Krieger erwiesen, und bei Rorke’s Drift hatten sich die Briten genötigt gesehen, ihre gesamte Disziplin und Tapferkeit aufzubieten. Dies in die Geschichte eingegangene Gefecht bot der Vorstellungskraft von Jungen wie Männern reichlich Nahrung. Immerhin hatten lediglich acht Offiziere mit hunderteinunddreißig Mann, von denen fünfunddreißig gesundheitlich angeschlagen waren, der Belagerung durch nahezu viertausend Zulu-Krieger widerstanden. Dabei waren siebzehn Briten ums Leben gekommen und elf Männer mit dem Viktoria-Kreuz ausgezeichnet worden.
Pitt schloss die Akte. Die dürren Worte der Berichte unternahmen gar nicht erst den Versuch, die heiße, staubige Landschaft auf einem fremden Kontinent oder die Männer – gute wie schlechte, feige wie tapfere – zu beschreiben, die dem Ruf gefolgt waren und dort unter diesen schwierigen Umständen gelebt oder ihr Leben in den Gefechten verloren hatten. Es war unerheblich, ob sie dem Ruf der Pflicht oder ihrer Abenteuerlust gefolgt waren, ob sie einer inneren Stimme oder einer äußeren Notwendigkeit gehorcht hatten.
Er dankte dem Verwalter und schritt die Stufen des Militärarchivs hinab in die helle Morgenluft. Am leicht bedeckten Himmel stand die Sonne. Während er über den Gehweg ausschritt, spürte er, wie sich in seiner Brust Stolz und Scham mit dem brennenden Verlangen mischten, all das zu bewahren, was in diesem Lande und diesem Volk, das er liebte, gut war. Die Männer, die sich bei Rorke’s Drift dem Feind gestellt hatten, standen für etwas sehr viel Schlichteres und Geradlinigeres als die Geheimnistuerei des Inneren Kreises und der politische Verrat, den manche begingen, um ihren Ehrgeiz zu befriedigen.
Er nahm eine Droschke zu Narraways Büro. Während er dort auf seinen Vorgesetzten warten musste, schritt er auf und ab, wobei sich sein Zorn immer mehr steigerte.
Als Narraway schließlich fast eine Stunde später eintraf, sah er belustigt, dass ihn Pitt wütend anblitzte. Er schloss die Tür. »Ihrem Ausdruck entnehme ich, dass Sie etwas Interessantes gefunden haben.« Es klang wie eine Frage. »Setzen Sie sich doch um Gottes willen, und erstatten Sie ordnungsgemäß Bericht. Ist Rose Serracold in irgendeiner Weise schuldig?«
»Sie kann sich nicht beherrschen«, sagte Pitt und befolgte die Anweisung. »Sonst nichts, soweit ich weiß, aber ich bin mit meiner Suche noch nicht am Ende.«
»Gut«, sagte Narraway knapp. »Dafür bezahlt Ihre Majestät Sie.«
»Ich vermute, dass es Ihrer Majestät ebenso geht wie dem lieben Gott – sie wäre über so manches entsetzt, was in ihrem Namen geschieht«, knurrte Pitt, »wenn sie davon wüsste!« Bevor ihm Narraway ins Wort fallen konnte, fuhr er fort: »Ich habe mich etwas näher mit Generalmajor Kingsley beschäftigt, weil ich wissen wollte, warum er Maude Lamont aufgesucht hat und warum seine Leserbriefe, in denen er Serracold so heruntermacht, derart offen den Ansichten
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