Feinde der Zeit: Roman (German Edition)
Einzimmerwohnung in Kendricks Apartmenthaus, in der ich vorübergehend untergebracht war. Hier unten gab’s ein Duschbad und eine winzige Küchenzeile. Aber keine Mikrowelle und keinen Fernseher. Auf dem Herd stand lediglich ein roter Teekessel.
»Es gibt hier nicht mal einen Rauchmelder«, murmelte Stewart. »Das verstößt gegen die Vorschriften.«
»Da fällt das Fehlen einer Tür aber wohl mehr ins Gewicht«, warf ich ein. Ich trat an das Regal und strich über den Plattenspieler, der darauf thronte. Auf dem untersten Regalbrett standen Dutzende Schallplatten. »Meinst du, hier hat mal das Dienstmädchen gewohnt oder so?«
»Das wäre aber eine ganz schön üble Unterbringung, wenn man bedenkt, wie gefährlich das ist.« Stewart hockte sich vors Regal und begutachtete die Plattensammlung. »Sieh dir das an. Gibt es überhaupt noch Leute, die Schallplatten hören? Und dann auch noch Hank Williams und Frank Sinatra?«
Ich rückte die Plattennadel wieder an die richtige Stelle und setzte mich neben Stewart auf den Teppichboden. »Und erst die Bücher: Für das Leben eines Freundes, Jenseits von Eden, Der alte Mann und das Meer … «
»Den Hemingway hab ich gelesen.«
»Ich auch«, sagte ich. »Aber das Buch hat ja wohl auch jeder gelesen, oder? In der Schule?«
Stewart zuckte mit den Schultern, ging zur Kommode und zog die oberste Schublade auf. Über mir sah ich etwas Rotes aufblitzen, und ich schaute zur Decke hoch. Sie war so niedrig, dass ich sie berühren konnte, wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellte. Die weiße Fläche war mit Kritzeleien in roter, blauer und schwarzer Schrift übersät.
»Hey, sieh dir das an, Stewart.« Ich stellte mich aufs Bett, damit ich das Gekritzel besser lesen konnte.
»Die Handschrift kenne ich doch!«, rief sie aufgeregt, als sie Dads akkurate Schrift gleichzeitig mit mir erkannte. »Glaubst du, er hat sich hier unten aufgehalten?«
»Möglich ist es. Das würde jedenfalls mehr Sinn ergeben, als wenn hier ein Dienstmädchen gehaust hätte.« Ich legte den Kopf in den Nacken und las den Satz, der direkt über dem Kissen stand:
Ich denke niemals an die Zukunft. Sie kommt früh genug.
Albert Einstein
»Lies mal das da«, sagte Stewart fast im Flüsterton. Wir sprachen beide nur noch gedämpft, als hätten wir das Gefühl, unerlaubt in Dads Privatsphäre einzudringen, indem wir seine Kritzeleien lasen.
Ich betrachtete die Stelle über ihrem Kopf und musste unwillkürlich lächeln.
Das Wichtige ist, dass man nicht aufhört zu fragen. Neugier hat ihren eigenen Seinsgrund.
Albert Einstein
»Kluge Worte«, sagte ich und ging ein Stück weiter, um etwas anderes zu lesen. Der längste Satz stand an der Wand hinter dem Bett, nur war das nicht Dads Schrift. »Das hier hat Eileen geschrieben.«
Ich erkannte die Schrift von meinem noch nicht lange zurückliegenden Sprung ins Jahr 1992, bei dem sie sich Notizen über alles gemacht hatte, was ich ihr erzählt hatte.
Jetzt hat er diese merkwürdige Welt ein kleines Weilchen vor mir verlassen. Aber das heißt gar nichts. Menschen, die wie wir an die Physik glauben, wissen, dass die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur eine besonders hartnäckige Illusion ist.
Albert Einstein
»Weißt du, was mich an diesem Zitat total rasend macht?«, fragte Stewart. Ich schüttelte den Kopf und starrte weiter auf die Sätze an der Wand. »Einstein hatte nicht die geringste Ahnung, wie zutreffend diese Aussage war. Er hat einfach eine Hypothese aufgestellt. Dieser Luxus ist uns nicht vergönnt.«
»Stimmt«, pflichtete ich ihr bei.
»Gibt es hier eigentlich noch was anderes als Einstein?«
Mein Blick fiel auf das große rote Herz unter Eileens Schrift. Darunter stand wieder etwas von Dad. Ich wusste, dass Stewart es gleichzeitig erspäht hatte; sie war genauso dringend auf der Suche nach Antworten wie ich.
Jetzt begriff er, dass sie ihm nicht nur nahestand, sondern dass er nicht mehr wusste, wo ihr Wesen aufhörte und seins anfing.
Leo Tolstoi
Mein Blick sprang zwischen Eileens und Dads Schrift hin und her. Wenn ich mir vorstellte, wie sie hier auf dem Bett gesessen und sich gegenseitig Botschaften geschrieben hatten, wurde ihre Verbindung für mich beinahe realer als bei meinen Halbsprüngen, als ich sie zusammen gesehen hatte.
Stewart wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Kommodenschublade zu, die sie offengelassen hatte. »Das ist wirklich ein seltsamer Raum, um hier zu leben. Ich kann mir nicht
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