Feinde der Zeit: Roman (German Edition)
Abteilung. Sie steckte bis um Hals in der Tinte. Und alles nur wegen mir. Sie drückte mich, und ich spürte, dass sie versuchte, sich zusammenzunehmen und mit dem Weinen aufzuhören. Als sie den Kopf ein wenig nach oben neigte, strich ich ihr mit dem Daumen die Tränen aus dem Gesicht. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ihr Mund war so dicht vor meinem. Konzentrier dich! Überleg, wie du sie von Eyewall wegbekommst, wie du sie davon überzeugen kannst, sich helfen zu lassen. Wir könnten auf eine Insel fliehen, die niemand kennt, und dort für immer bleiben.
Wenn ich Holly vor diesem schrecklichen Schicksal bewahren konnte, dann wäre das wenigstens ein Erfolg auf dem Weg zur Rettung der Welt. Ihre Finger bewegten sich langsam von meiner Taille zu meiner Brust, aber ich spürte, dass sie irgendetwas festhielten. Mir blieb nur eine halbe Sekunde Zeit, um den Gegenstand ins Auge zu fassen, bevor sie mir das Tuch auf Mund und Nase drückte. Die giftigen Dämpfe drangen in meine Atemwege ein, und bald darauf wurde alles schwarz.
22
20. Juni 2009, 10:00 Uhr
»Jackson! Jackson!« Jemand schlug mir mit der Hand ins Gesicht.
Allmählich spürte ich wieder den harten Fußboden unter mir; der Geruch der Kanalisation stieg mir erneut in die Nase und löste einen Würgereiz aus. Auf meiner Stirn bildete sich eine dünne Schweißschicht. Als ich mühsam die Augen aufschlug, blickte ich direkt in Kendricks. Kendrick war hier, nicht Holly?
»Setz dich noch nicht auf.« Sie drückte mit beiden Händen auf meine Brust, damit ich liegen blieb. »Gott, dein Herz rast wie verrückt. Was hat sie dir gegeben?«
Ich versuchte mich genauer an den Geruch des feuchten Tuchs zu erinnern, mit dem Holly mich betäubt hatte. »Keine Ahnung. Wie bist du hier reingekommen?«
Über unseren Köpfen erklang ein hoher Signalton, und als ich aufschaute, erblickte ich ein Loch in der Decke; ein großes Stück fehlte daraus. »So ist sie also hier rausgekommen«, sagte ich zu mir selbst.
»Und ich rein.« Kendrick zückte einen kleinen Palmtop und tippte einige Zahlen ein. Sekunden später sprang die Tür auf.
Mein Portemonnaie, meine Schlüssel und mein Handy lagen noch an derselben Stelle, an der Holly meine Hosentaschen ausgeleert hatte. Ich hob alles auf und ging zur Tür.
Kendrick folgte mir, während ich die Stufen hochstapfte und wieder in den U-Bahn-Tunnel eintrat. Als ich ihre Hand auf meinem Arm spürte, blieb ich kurz stehen.
»Ist denn alles in Ordnung? Geht es dir gut?«, fragte sie.
»Jetzt bemuttere ihn nicht auch noch. Er ist doch ohnehin schon so verzogen und verhätschelt.«
Als wir uns umdrehten, stand Stewart vor uns. Sie sah mitgenommen aus; ihre Kleider waren zerrissen, ihr Haar zerzaust.
»Wisst ihr, ob mit Holly alles okay ist?«, fragte ich von einer zur anderen schauend.
Stewart blickte mich wütend an und verpasste mir einen Stoß, der mich fast auf die Schienen befördert hätte. »Sag mal, spinnst du? Blondie führt dich schnurstracks in diese dunkle Höhle, verpasst dir eine hübsche Dosis Chloroform oder so und entkommt selbst ohne einen Kratzer, indem sie die Wand hochklettert und ein Loch in die Decke schlägt, während du sabbernd auf dem Boden liegen bleibst – und du willst wissen, ob mit ihr alles okay ist?«
Wir waren gerade ins Freie getreten, wo ich endlich wieder frische Luft atmen konnte, und es überraschte mich, dass es offenbar schon später Vormittag war. Also hatte ich Stunden dort unten gelegen. »Ich bin sicher, Eyewall hat sie reingelegt. Sie sollte bestimmt nicht zusammen mit mir da unten eingeschlossen werden.«
»Ich glaube, es wird Zeit, dass du dich der Wahrheit stellst«, sagte Stewart.
»Wie meinst du das?«
»Blondie hat ganz schön was auf dem Kasten«, sagte sie und zog eine Augenbraue hoch. »Und zwar sehr viel mehr, als du je mitbekommen hast.«
»Nein, sie ist –« War das gestern Abend alles nur Show gewesen? Ich blieb mitten auf dem Gehsteig stehen und versuchte dieses verrückte Puzzle zusammenzusetzen. Aber die Art, wie sie geweint hatte. Das konnte doch unmöglich gespielt gewesen sein. Allerdings bedeutete es auch nicht unbedingt, dass sie mir vertraute. Sie konnte ihre echte Trauer durchaus dazu benutzt haben, mich zu manipulieren.
Das alles änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass ich wusste, dass Holly Angst hatte und dass sie gestern Abend nur hatte überleben wollen. Sie hätte mich töten können, während ich bewusstlos war, doch sie hatte es nicht
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