Feinde der Zeit: Roman (German Edition)
»Gut. Dann lass uns in die Küche gehen.«
Sie riss mir das Notizbuch aus der Hand, kletterte aus dem Bett und blieb dicht hinter mir. Kendrick hatte ihr eins von meinen T-Shirts angezogen, das ihr bis zu den Knien reichte.
Das Büchlein hielt sie derart fest umklammert, dass ich es nicht wagte, es ihr wieder abzunehmen. Sie ließ sich von mir zum Tisch führen und setzte sich auf den Platz, den ich ihr zuwies.
Dann knabberte sie erneut an einem Stück Pitabrot und trank Gatorade; ich saß ihr währenddessen gegenüber und beobachtete sie. Als sie beide Hände gleichzeitig benutzte, ergriff ich meine Chance und klaute das Notizbuch zurück. Doch sie ließ sofort das Brot fallen, griff in die Spiralbindung und krallte ihre kleinen Finger hinein. Dabei sah sie mich so verzweifelt an, dass ich gleich wieder losließ.
»Ich … verstehe das nicht«, sagte sie. »Ich muss was zu lesen haben, Zahlenmaterial, Daten. So was lese ich gern.«
So wie sie das sagte, hätte man meinen können, ich hätte ihr ihre Mutter weggenommen. Plötzlich fiel mir ein, wie ich Emily mit konkreten Informationen versorgen konnte. Ich öffnete die Krimskramsschublade neben der Spüle und wühlte darin herum, bis ich ein schon halb eingetrocknetes Stempelkissen fand, das aber noch benutzbar war. Dann nahm ich ein weißes Blatt Papier, trug beides an den Tisch und legte es zwischen uns. Langsam drückte ich meinen Daumen auf das Stempelkissen und dann auf das Papier, so dass ein schwarzer Fingerabdruck darauf zurückblieb. Dann schob ich Emily das Stempelkissen hin. Sie schaute mich zuerst nur an, dann hob sie die Hand. »Es tut nicht weh, versprochen.«
Sie nickte und setzte ihren Fingerabdruck neben meinen. Dann beugte sie sich so dicht darüber, dass ihre Nase fast das Blatt berührte. Ich reichte ihr das kleine Vergrößerungsglas an meinem Taschenmesser, um ihr bei der Untersuchung zu helfen. »Sie sind gleich. Wir sind gleich.«
»Ja, stimmt.« Dann kam mir noch eine Idee, und ich rannte aus der Küche, um meine Tasche und meine Kassette zu holen. Ich demonstrierte Emily, dass diese Kassette meinen Fingerabdruck las und dann aufsprang und meine Aufzeichnungen und Hollys Tagebuch zusammen mit anderen persönlichen Gegenständen freigab. Danach wiederholte Emily die Prozedur mit ihrem Finger und öffnete und schloss die Kassette mindestens zehnmal hintereinander. Anschließend streckte sie ihre Hände nach meinem Gesicht aus und tastete es ab, fast so, wie Eileen es bei meinen Besuch gemacht hatte. Wir standen einige Sekunden Nase an Nase, bis sie schließlich flüsterte: »Aber du siehst anders aus?«
»Ja, ich weiß. Ich verstehe das auch nicht. Und eigentlich hatten wir gehofft, dass du etwas darüber weißt.«
Sie sank zurück auf ihren Stuhl. Inzwischen wirkte sie weniger ängstlich und zaghaft. »Du bist nicht wie sie. Und genau das hassen sie.« Sie schluckte schwer und sah mich an. »Sie hassen es, dass ich vielleicht so bin wie du.«
Ich konnte nur raten, dass sie von den Feinden der Zeit sprach und darüber, dass ich emotionaler und menschlicher war als sie. Jemand musste ihr davon erzählt haben, vielleicht aus Wut, weil sie sich ähnlich benahm wie ich, der Mensch mit demselben Fingerabdruck wie sie. Und damit in gewisser Weise auch mit derselben Identität.
Emily zeigte erneut auf das Notizbuch. »Darf ich das lesen, bitte?«
»Es gehört nicht mir. Wir sollten besser warten, bis Lily aufgestanden ist, okay?«
»Hat sie zwei Namen?«, fragte Emily. »Gestern Abend hast du sie anders genannt.«
»Kendrick ist ihr Nachname.« Ich wartete einen Moment und fragte dann: »Hast du auch einen Nachnamen?«
»Nein, nur Nummern.« Sie schaute sehnsüchtig auf den Kühlschrank. »Hast du Hühner?«
»Äh, nein, nicht da drin. Jedenfalls keine lebenden.«
»Ich hatte ein Huhn. Es hat bei mir gelebt, aber es ist krank geworden und gestorben.« Sie schaute auf ihre Hände und seufzte. »Es war das letzte.«
»Das letzte Huhn?«
»Aussterben?«, sagte sie, als spräche sie mit jemandem, der jünger war als sie. »Eine tote Spezies?«
»Es gibt in der Zukunft keine Hühner mehr?«, fragte ich.
Aus ihrer Miene sprach nun lebhafte Neugier; die Angst war verschwunden. »Nein. Aber stirbt nicht alles irgendwann aus?«
»Ich weiß nicht. Tut es das?«
»Wie alt bist du? Und wie viele Namen hast du?«, wollte sie wissen.
»Ich bin neunzehn … Jahre alt, also dreihundertfünfundsechzig Tage mal neunzehn Jahre.«
Sie nahm das
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