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Feinde der Zeit: Roman (German Edition)

Feinde der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Feinde der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Cross
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von dreißig Sekunden und zog dann vorsichtig den Notizblock unter Hollys Armen weg. Dabei hielt ich den Atem an, da ich fast erwartete, dass sie davon aufwachen würde. Doch sie murmelte nur irgendwas Unzusammenhängendes und fing dann leise an zu schnarchen.
    Die Tinte auf der obersten Seite war ein wenig verschmiert, wohl von ihren Tränen, aber trotzdem war der Essay für ihren Englischkurs noch lesbar, den sie versucht hatte zu schreiben. Ich erinnerte mich noch vage daran, dass mir genau die gleiche Aufgabe gestellt worden war. WER BIN ICH?
    Ein super Thema für einen CIA-Agenten.

    Ich bin nicht sicher, ob ich diese Frage beantworten kann, aber ich versuch’s einfach mal. Immer wenn ich über eine passende Antwort nachdenke, schweife ich gedanklich zu anderen Fragen ab, wie zum Beispiel der, wer ich gewesen bin und wer ich sein möchte. Ich ertrage es nur selten, darüber nachzudenken, wer ich momentan bin. Vor fünf Jahren war ich noch das kleine Mädchen, das Mitleid mit einem hochaufgeschossenen dünnen Jungen hatte, der viel zu nett war, um für sich selbst einzustehen. An unserem ersten Tag in der Highschool habe ich ihm in der Cafeteria einen Zettel vom Pulli abgemacht, den ihm jemand an den Rücken geheftet hatte, weil ich das, was daraufstand, total unangemessen fand. Von da an waren wir beste Freunde. Ich habe meine Loyalität David gegenüber nie angezweifelt, aber je älter man wird, desto schwerer wird es, sich zu entscheiden, wem gegenüber man loyal sein will. Vor fünf Jahren war alles noch so klar. Schwarz und Weiß. Jetzt ist es so viel komplizierter.
    Vor drei Jahren habe ich meine Mutter noch umarmt und ihr gesagt, dass ich sie liebhabe. Und das Merkwürdige ist: Damals wusste sie es auch so. Ich hätte es gar nicht zu sagen brauchen. Aber jetzt ist sie sich da vielleicht nicht mehr so sicher, und ich sollte es ihr mal wieder sagen. Ich habe es viel zu lange nicht mehr getan. Vor zwei Jahren war ich noch das Mädchen, das wie blöd für den Studierfähigkeitstest gebüffelt, jeden Cent gespart und von einem Leben in New York geträumt hat. Ich habe mir immer vorgestellt, wie sehr ich es genießen würde, ganz auf mich gestellt zu sein. Ich habe die Freiheit herbeigesehnt und die endlosen Möglichkeiten. Das Unbekannte hat mir keine Angst gemacht. Und alles Gewöhnliche war mir verhasst.
    Jetzt wache ich jeden Morgen als das Mädchen auf, das nur ein Ziel hat: auch diesen Tag zu überleben. Schaffe ich es, ihn lebend zu überstehen, wird alles gut. Aber in der letzten Zeit frage ich mich immer häufiger, warum ich eigentlich so weitermachen soll. Warum ich überleben will. Damit ich noch einen Tag lang Angst haben kann, es nicht zu schaffen? Und darüber nachdenken kann, wie viel schlimmer es morgen sein wird?
    Wegen all der Ungewissheit in meinem Leben habe ich, glaube ich, längst aufgehört, schöne Dinge wahrzunehmen. Zum Beispiel wie warm mittags die Sonne ist, wie frisch und lecker der Kaffee riecht, wie das Parfüm meiner Mutter duftet – lauter Sachen, die mir immer wichtig gewesen sind. Bis jetzt.
    Ich habe immer geglaubt, dass einen das Leben aus allen Ecken nur so anspringt, nachdem man mit dem Tod in Berührung gekommen ist oder wenn man spürt, dass er naht. Ich dachte, dann wird die Welt umso lebendiger, damit man alles tun würde, um am Leben bleiben zu können. Aber für mich verdunkelt sie sich nur zusehends; ich kann schon keine Farben mehr sehen. Alles sieht grau aus, riecht nach nichts, schmeckt fade …
    Und ich bin so müde, dass ich ewig schlafen könnte.
    Das bin ich also heute. Jemand, der einfach nur noch schlafen und nie mehr aufwachen möchte. Aber ich kann nicht, weil ich diesen Aufsatz noch mal neu schreiben muss, denn niemals könnte ich irgendjemandem wirklich so viel über mich erzählen. Oder so wenig. Das hängt ganz davon ab, wie man es betrachtet.

    Noch lange nachdem ich diesen Text zu Ende gelesen hatte, starrte ich auf den Notizblock, und mit einem Mal tat mir selbst das Atmen weh. Plötzlich ergab alles einen Sinn und erschien mir zugleich noch furchtbarer. Wer immer diese Wendung der Ereignisse geplant und dafür gesorgt hatte, dass Holly diesen Weg einschlug; wer immer sie, um mich zu quälen, zu Eyewall gebracht hatte – vielleicht war es Thomas gewesen –, wusste genau, was er tat. Anders als Holly hatte ich morgens viele Gründe aufzustehen und mich dem Tag zu stellen, was immer er bringen mochte. Hollys Leben zu schützen war lange Zeit der

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