Feindesland
Zeitnah.«
Ich fuchtele herum wie Wigald Boning, wenn er seine Erkenntnisse aus einem Experiment flapsig unterstreichen will, und sage: »Wenig Arbeit ist eine Illusion.«
Hartmut steht vom Klodeckel auf, der ebenso wie die Brille tatsächlich aus in transparenten Kunstoff eingearbeitetem Stacheldraht besteht, geht zum Waschbecken, lässt heißes Wasser einlaufen, füllt es mit blauem Duschgel der Sorte »For manly Men«, schaufelt sich das Wasser in Gesicht und Nacken, lässt es wieder ablaufen, rubbelt sich mit einem Handtuch ab, nickt und kehrt mit mir ins Wohnzimmer zurück.
»Dass bei euch der Klodeckel aus Stacheldraht ist, der einen aber nicht ernsthaft gefährden kann, ließe sich durchaus als augenzwinkernder Kommentar zur leicht ödipalen Struktur dieser in der Analphase steckengebliebenen Familienaufstellung lesen«, sagt Hartmut, setzt sich neben seine Mutter und isst eine Peffernuss.
Seine Mutter schweigt, denn diesen Satz brauchte sie zur Verarbeitung schriftlich.
»Was uns zur eigentlichen Weihnachtsüberraschung bringt«, sagt Hartmut.
»Es gibt eine Überraschung?«, fragt sein Vater, der mit dem Bastkorb aus dem Keller zurückkehrt. »Ich war unten, Getränke holen«, sagt er, als wäre es nötig, das noch einmal zu erklären.
Hartmut sagt: »Ja, eine Überraschung. Euer Sohn hat seine Doktorarbeit geschrieben!«
»Sapperlot!«, sagt die Mutter und klatscht in die Hände.
Susanne und Caterina schauen auf, ich bedeute ihnen mit einer leichten Kopfbewegung, nichts zu sagen.
»Wann denn auch das noch?«, sagt der Vater und verteilt neues kaltes Bier unter die Männer. »Schläfst du auch mal?«
»Ich schlafe nie, denn der Schlaf ist der Grund allen Zweifelns«, sagt Hartmut.
Seine Mutter sagt: »Ja, und wie jetzt? Die ist schon fertig? Du hast schon deinen Titel? Können wir da zur Verleihung kommen? Ist die vor oder nach der Hochzeit? Und wann ist überhaupt jetzt die Hochzeit? Wann ist also die Verleihung, Hartmut? Und kriegst du eine Stelle an der Universität?«
Hartmut wartet einen Moment ab, um die mütterlichen Wogen ausschwimmen zu lassen. Dann sagt er: »Die Doktorarbeit ist fertig, aber noch nicht bewertet oder korrigiert vom Professor. Es dauert also noch.«
»Ach so«, sagt Hartmuts Mutter.
»Ja. Und damit sich dein Sohn am Ende wirklich Doktor nennen kann, bedarf es noch einer Sache, bei der ich eure Hilfe brauche.«
»Was, Kind? Jederzeit! Immer! Wollt ihr weg aus Berlin? Miete sparen? Wieder hier einziehen? Brauchst du Geld?« »Stopp!«, sagt Hartmut. »Stopp?«
»Ja, stopp, Letzteres war richtig.«
Susanne und Caterina atmen verstehend aus. Hartmuts Vater schmunzelt, das Bier in der Hand, den Blick wieder halb in Alaska. Es ist ein Blick so weich wie Wetterleuchten, ein Blick wie ein Tag am Kamin, an dem man »The Lamb Lies Down On Broadway« von Genesis am Stück durchhört.
»Letzteres war richtig?«, sagt Hartmuts Mutter. »Also Geld?«
»Ja.«
Hartmuts Mutter isst eine Aaachener Printe. Man weiß nicht, was sie davon hält. Geld scheint ihr zu profan.
»Eine Doktorarbeit muss veröffentlicht werden. Als Buch. In einer Mindestauflage, die sämtliche Universitäts- und Fachbibliotheken abdeckt. Das kostet Geld, denn die Fachverlage verdienen an diesen Büchern ja nichts. Die werden keine Bestseller.«
»Aber du hast doch jetzt Kontakte. Du bist doch beim Angler Verlag.«
»Mit einem Unterhaltungsbuch, Mutter! Einem giftigen vielleicht, aber einem Unterhaltungsbuch. Denkst du, die verlegen freiwillig eine Studie über Selbstreferenzialität und nicht-intentionale intertextuelle Verweisungsnetzwerke in den Werken der Postmoderne?«
Hartmuts Mutter denkt das wohl nicht, sonst würde sie sprechen.
»Und wie viel kostet so ein Doktorarbeitsbuchdruck?«, fragt sie.
»5000 Euro«, sagt Hartmut.
»Das ist eine Stange Geld«, sagt der Vater.
»Das wir dir natürlich geben«, sagt die Mutter.
»Nicht geben«, sagt Hartmut, »leihen. Nur leihen. Und wenn ich ehrlich sein soll, am besten, wie soll ich sagen ... heute.«
»Heute?« Hartmuts Mutter spuckt beim Sprechen Printenkrümel. »Wer druckt denn über Weihnachten Doktorarbeiten?«
»Niemand«, sagt Hartmut, »aber ab dem 01.01. erhöhen sie die Preise. Um 15 Prozent! Steigende Kosten, Inflation, Deflation, Wirtschaftskrise.«
»Der Amerikaner und seine Immobilienfonds«, sagt Hartmuts Mutter. »Und wir müssen das alles ausbaden!«
»Ja«, sagt Hartmut, »der Amerikaner, der Hund!«
»15 Prozent mehr ab
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