Feindesland
Er fällt und schreit. Ein anderer nimmt eine leere Flasche und holt nach mir aus. Ich weiß nicht, wie das zu Ende gehen soll. Es ist eine Situation, von der man sonst albträumt, und diese Träume enden bei mir meistens darin, dass ich alle Angreifer nach und nach töten muss, weil sie sonst nicht aufhören. Dann öffnen sich ihre Köpfe, und es ticken Uhren darin. Das träume ich häufiger. Ich muss töten, obschon es mir leidtut, so wie Mutter damals Spinnen zerquetschte, aus lauter Angst vor ihnen.
Ich weiche der Flasche aus, Hartmut tritt um sich, es wird niemand kommen und helfen. Die Polizei habe ich in dieser Gegend noch nie gesehen. Ein Fuß trifft Hartmut fast am Kopf, doch bevor der russische Stiefel sein Jochbein zertrümmern kann, wird der Angreifer von zwei kräftigen Männern niedergerissen und mit äußerster Wucht auf den Boden geschleudert. Es ist eine Wucht, wie sie nur Hass erzeugen kann. Hass und Gewohnheit. Hass habe ich mittlerweile ausreichend, aber diese harte Prügelei bin ich immer noch nicht gewohnt. Die Männer, die sich gerade einmischen, schon. Es sind ingesamt fünf. Sie tragen Springerstiefel mit weißen Schnürsenkeln und Hosenträger über enganliegenden T-Shirts. Ihre Arme sind behaart, ihre Köpfe nicht. Zwei von ihnen haben Koteletten, ähnlich wie Hartmut. Sie kämpfen mit den Russen und mit Ozgür. Sie brüllen etwas von roten Ratten und Kanaken, und ihre Fäuste wirbeln durch die Luft wie Thors Hammer. Hartmut rappelt sich vom Boden auf und kann nicht fassen, was gerade passiert. Uns wird von Naziskins geholfen. Einer der Hooligans schlägt gerade Alexej nieder, indem er einen kurzen, gezielten Faustschlag und einen Ellenbogenstoß kombiniert. Hartmut, der eben fast sein Gesicht an den Stiefel eines Russen verloren hätte, verliert jetzt seinen Glauben. Er sieht zwischen den Russen, Ozgür und den Nazis hin und her. Er weiß nicht, wem er helfen soll. Jede Seite ist falsch. Er schluckt. Er hechelt. Dann beginnt er, sich selbst auf die Nase zu hauen. Ich arbeite mich durch das Schlachtengetümmel zu ihm vor.
»Hör auf, was machst du denn?«, sage ich und versuche, seine Arme zu bändigen, die sein eigenes Gesicht bearbeiten.
»Es geht nicht anders«, sagt er und boxt sich. »Das sind Nazis.«
»Das sehe ich«, sage ich, während Körper aufeinanderprallen und meine Lippe, mein Auge und mein Magen pochen. »Aber sie retten uns.«
»Nein, nein, das darf nicht passieren!«, sagt Hartmut und will seine Hände wiederhaben, die ich mittlerweile halte. Als er sie nicht kriegt, ruft er den Nazis zu: »Ich habe arabische Vorfahren! Mein Opa war Kommunist!«
»Du hast niederländische Vorfahren, und dein Opa war Nazi«, sage ich.
»Das müssen die aber nicht wissen«, zischt er. »Außerdem wollte mein Opa nur Nazi werden. Die Partei hat ihn nicht genommen.« Er wendet sich wieder an die durch Krieg abgelenkten Hooligans: »Mein Opa war zu tumpelig, um von der Partei aufgenommen zu werden!«
Ich schiebe ihn von dem Gelände weg. »Lauf!«, sage ich, und wir laufen zum Haus rüber, die Parteien ihrem Krieg überlassend.
Im Aufzug lehnt sich Hartmut an die Wand, zerschunden wie ich, und hat Tränen in den Augen. »Das ist doch alles nicht richtig«, stammelt er.
»Du wirst Vater«, sage ich, »das ist richtig.«
Er weint.
Ich nehme seine Hände. »Wir sind die Guten«, sage ich. »Egal, was passiert, lass dir niemals einreden, das dürfe man so nicht behaupten, in Ordung? Wir sind die Guten, und du wirst Vater!«
Er sieht mich an, die Pupillen verschwommen vom Wasserspiegel. Ich umarme ihn. Und ich frage mich, wie ich vorhin auf seine Koteletten wütend sein konnte.
Graben und Grillen
Hartmut und ich stehen auf dem zukünftigen Firmengelände von MyTaxi in Pankow und warten auf den Verkäufer, der gerade in sein ehemaliges Büro gegangen ist und dort einen vergessenen, aber sentimental bedeutsamen Kalender von der Wand nimmt. Wir haben ihm eben erklärt, warum wir zwei Wochen nach der ersten Besichtigung heute mit blauen Augen und Schrammen im Gesicht auftauchen. Im Grunde brauchten wir nicht viel zu erklären. Die Stichworte »Wedding« und »Russen« reichten schon, bis zu den Nazis sind wir gar nicht mehr gekommen. Die Polizei haben wir an dem Abend anonym angerufen, doch als sie eintraf, hatte sich auf dem Hüttenplatz der Staub bereits gelegt. Ohnehin hätten sie wohl nur die Hooligans und nicht Ozgür, Alexej und seine Schergen verhaftet, denn während die sicher
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