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Feindesland

Feindesland

Titel: Feindesland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Uschmann
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Die Telefonsäule tutet.
    Hartmut sagt, die Hände vor der Brust: »Es ist erstaunlich.«
    Kaum sind wir drei Schritte weiter, klingelt Susannes Telefon. Ihre Mutter ruft: »Ich weiß, du hast überhaupt keine Zeit, aber kannst du mir nur eben erklären, wie ich die Datei mit dem Foto öffne? Das geht irgendwie nicht ...«
    Fliegerbrillen
     
     
    Am dritten Advent machen wir Hartmuts Plan wahr. Wir laden die ersten Pressevertreter auf unser noch im Umbau befindliches Gelände ein. Wir haben mehrere Tage durchgearbeitet. Caterina hat ein Logo und einige Designelemente für unsere künftige Corporate Identity entworfen, Hartmut und Susanne haben eine Präsentation erarbeitet, und ich habe mit Mario, Cevat, Samir und all den anderen weiter die Gebäude restauriert. Sogar der Taubstummendarsteller Alfred Bassermann war anwesend und zwar passgenau in dem Moment, als eine unangemeldete Stichprobenkontrolle des Ministeriums stattfand, obwohl wir mit dem Beamten erst kürzlich den Januar als Erfüllungstermin unserer Personalanforderungen ausgemacht hatten. Diese Regierung hasst die Zeit. Könnten sie sie auch noch abschaffen und somit alles sofort erledigen, sie würden es per Dekret tun.
    Die Büroräume, in denen neulich Hartmuts Mutter angerufen hat, obwohl die Telefonnummer noch gar nicht existierte, sind bereits fertig, aber die Präsentation unserer zukünftigen Firma findet in der noch leeren, dreckigen Werkstatthalle statt. Das ist Absicht, denn die Pressevertreter, die wir geladen haben, sind nicht irgendwelche Pressevertreter, sondern, wie Hartmut das nennt, »hippe« Pressevertreter. Am wichtigsten scheint ihm ein Mann, der als Buchautor schon seit einiger Zeit über neue Trends in der Arbeitswelt berichtet. Er ist mit einem Kollegen angereist, der zu einem Nadelstreifenanzug und einem Automechaniker-Schnauzbart einen sehr hohen, knallroten 80er-Jahre-Deutsch-Punk-Iro trägt. Auch er ist »hip«, man hat ihn sogar schon in Talkshows gesehen, an denen Joey Kelly und Rainer Calmund nicht teilnehmen.
    Der Rest der angereisten In-Journalisten sieht relativ gleichförmig aus. Die Männer sind im Prinzip allesamt leicht bärtige Kopien von Daniel Brühl, die Frauen tragen Blusen mit rundlich gepufften Ärmeln und Fliegerbrillen mit spiegeleigroßen Gläsern. Diese Klientel sei von vornherein positiv gestimmt, sobald ein Event in Lagerhallen, Garagen oder U-Bahn-Schächten stattfindet, hat Hartmut mir erklärt, egal, ob es sich dabei um ein Konzert, ein Theaterstück, eine Präsentation oder eine Performance handle, bei der sich mit Lockstoffen eingeschmierte Künstler eine Stunde lang von Ratten beknabbern lassen. Wenn wir diese Klientel eroberten, so Hartmut, stünde der Begriff »MyTaxi« spätestens zum Jahreswechsel auf ein paar tausend Blogs und Profilen im Netz.
    »Wenn wir alte Journalisten von gedruckten Zeitungen einladen, bekommen wir einen Artikel, und das war's dann. Laden wir junge Journalistinnen mit Fliegerbrillen ein, von deren Lesern jeder einzelne wiederum zwölf Userprofile, sieben Blogs, zwei öffentliche Tagebücher und mindestens eine eigene Homepage betreibt, lösen wir einen Schneeballeffekt aus, der durch nichts zu toppen ist«, so Hartmut. Auf meine Frage, was wir denn tun, wenn die Anhänger der Fliegerbrillenjournalistinnen die Nachricht einfach nicht weiterverbreiten, antwortete er: »Wer täglich zwölf Profile und sieben Blogs füllen muss, ist froh um jede News, die er bekommen kann. Der hinterfragt doch nicht mehr, ob sie Sinn ergibt.«
    Und so stehen wir also da in unserer Werkhalle, rund dreißig hippe Medienpartner um uns herum und einen Mix in der Musikanlage, den Hartmut extra zu dem Zweck hergestellt hat, diese Leute positiv zu beeinflussen. Wer sich die Achtung von Nadelstreifenirokesen und Fliegerbrillenfrauen erarbeiten will, muss Musik spielen, die der normale Bürger nicht kennt, sie aber schon. Dann erfreuen sie sich an ihrer eigenen Kennerschaft und stoßen vor lauter Entzücken über sich selbst Dopamin aus. Man mag in Bosnien Kinder aus dem Kreuzfeuer gerettet und bereits zwei Nieren gespendet haben, solange man dabei bloß Phil Collins hörte, blicken sie auf einen herab wie auf Containerbewohner.
    Gegen 21 Uhr - ein früherer Beginn würde bei der Zielgruppe mit dem Frühstück kollidieren - beginnt Hartmut seinen Vortrag. Die visuelle Untermalung wurde von Caterina mittels Flash gestaltet; PowerPoint wäre bei diesen Leuten ebenso eine Todsünde wie Phil Collins. Die

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