Feindesland
habe Tränchen in den Augen. Das Publikum lacht und schaut Hartmut an, als könne man ihn nur lieben, als habe er Hamsterbäckchen und große Augen und sei zugleich so clever, dass er jeden im Raum und sein Leben genau versteht und besser in Worte fassen kann, als die Leute es selbst jemals könnten. Er hat sie im Sack. Auch noch die nächsten 70 Minuten. Nach der Lesung kaufen sie den Büchertisch leer und lassen sich sogar einige Exemplare signieren. Es ist das erste Mal, dass Hartmut Autogramme geben muss.
»Ich weiß, es ist nicht korrekt, das so zu sagen«, lacht er, »aber das hier war besser als eine Lesung im >Kellerloch<.«
Susanne krault ihm den Rücken. Er berührt sanft ihren Bauch. »Und für das Kleine ist es auch besser, wenn Papa in solchen Läden auftritt.« Susanne küsst ihn.
Die Veranstalterin sagt: »Herr Hartmut, Verzeihung, wir würden gerne die Abrechnung machen.«
»Ich auch«, sagt Hartmut, »ich auch.«
Es ist ein Uhr, als wir in unsere Wohnung im Mietshaus zurückkehren.
»Hast du den Mann in der dritten Reihe gesehen?«, sagt Susanne, »der hat sich sogar Notizen gemacht. Und der war kein Journalist.«
»Die Familie hinten war süß«, sagt Caterina, »ich glaube, die fangen jetzt an, an Heiligabend Wintergames zu spielen.«
»Und Peter Alexander zu hören«, lacht Hartmut, während er die Tür aufschließt.
Er wirft den Schlüssel auf seine Matratze, zieht die Jacke aus und ruft: »Nicht wahr, Yannick, den Peter magst du doch auch, oder? Yannick?«
Unser kleiner Kater scheint zu schlafen. Sonst kommt er immer sofort angelaufen.
Ich erspähe eine Ausbeulung unter meiner Decke und schleiche mich an. »Na, was ist denn da?«, sage ich und tippe mit den Fingern auf das Frottee. Üblicherweise müsste nun ein Ton wie »Brrrrriuhhhhh« aus dem Leib des Katers ertönen, doch es ertönt nichts. Es fühlt sich auch nicht nach Kater an. Ich nehme die Decke zurück. Es ist nur ein Kissen. »Yannick?«
Susanne und Caterina verteilen sich in Bad und Küche, munter rufend. Der Kleine spielt Verstecken. Er hat das schon häufiger mit uns gemacht. Sein Rekord liegt bei 37 Minuten. Da hatte er sich so flach unter den Küchenschrank gepresst, dass wir nicht mal auf die Idee gekommen wären, dort nachzusehen. Caterina öffnet die Küchenschränke, Susanne sieht im Wäschekorb nach.
»Yannick! Süßer!«
Hartmut durchwühlt die Reisetaschen und Koffer. Hebt Matratzen an. Verschiebt den Fernseher. Öffnet den Kühlschrank.
»Komm jetzt, mach uns nicht verrückt, Alter.«
Susanne fragt unsere Schildkröte im Badezimmer: »Irmtraut, hast du deinen pelzigen Bruder gesehen?«
Ich will mir und den anderen gerade beruhigend zureden, dass wir ihn schon finden, indem wir einfach nichts tun und er von selbst aus seinem Versteck kommt, als mein Blick auf die Balkontür fällt. Sie ist offen. Nur angelehnt.
»Wer hat vorhin den Balkon zugemacht?«, frage ich.
Niemand antwortet. Alle hören auf zu suchen und starren zu mir herüber.
»Ja, was?«, brülle ich viel zu laut, auch um zu verbergen, dass ich selbst auch nicht mehr weiß, ob ich sie geschlossen habe. »Niemand?«
Hartmut kommt heran, öffnet die Tür komplett und tritt auf den Balkon. Das Rauschen der Straßen und weit entfernten Innenstadtgeräusche hat nichts Beruhigendes mehr wie sonst. Es ist das Rauschen von Reifen, die ein schwarzes totes Fell auf dem Asphalt überfahren. Mir wird übel. Hartmut sagt: »Ach du Scheiße!«
Im Katzenschutznetz, das den Balkon umschließt, ist ein Loch. Rechts, dort, wo es zum Nachbarbalkon gehen würde. Das ausgerissene Stück hängt herunter wie ein Hautlappen in modernen Anatomiesendungen. Hinter uns schluchzt Caterina. Susanne wird zunächst ganz still. Dann schreit sie und tritt einen Stuhl beiseite.
Ich schaue die sieben Stockwerke hinab und mache mich gefasst auf das, worauf man sich nicht gefasst machen kann. Unten auf dem Asphalt sehe ich ... nichts. Oder doch? Da ist etwas Schwarzes, aber es sieht nicht wie ein toter Kater aus. Eher wie ein Fleck. Oder? Ich habe das Gefühl, einzufrieren und den Rest meines Lebens hier an dieser Reling zu stehen, bis ich mich schneller, als ich denken kann, davon abstoße, Hartmut beiseite schubse, die Wohnung verlasse und die Treppen hinunterrenne. Ich renne, wie ich sonst nur in Träumen renne. Nehme fünf, sechs Stufen auf einmal, halte mich dann am Geländer fest und schwinge bei jedem Stockwerk um 180 Grad in der Luft herum auf die nächste Treppe.
Weitere Kostenlose Bücher