Feindesland
Ich träume so etwas seit Jahren, mindestens einmal die Woche. Nach drei Stockwerken berühre ich den Boden gar nicht mehr und bin nur noch ein Arm am Geländer, der einen Körper in einer Spirale nach unten schwingt, bis er an der Haustür ankommt, sie aufstößt, einmal ums Gebäude läuft, den schwarzen Fleck auf dem Bürgersteig erspäht, darauf zurennt, sich kurz davor im Hinfallen beide Knie aufschlägt und dann atemlos hocken bleibt, eine schwarze Tragetasche aus Baumwolle in den Händen, die jemand achtlos weggeworfen hat, zwei Pfandflaschen Berliner Pilsener darin.
Ich würge und habe Tränen in den Augen, als Hartmut und Caterina mich erreichen. Susanne wird die Treppen nicht rennen wollen mit dem Baby. Ich weine aus Erleichterung, dass ich hier eine Tragetasche knete, und aus Verzweiflung, weil Yannick über den Balkon des Nachbarn abgehauen sein muss. Warum haut er ab? Warum verlässt er uns, bloß weil er die Chance dazu hat?
Caterina hockt sich neben mich und nimmt mich in die Arme. Meine Knie färben sich in der Jeans rot. Dieses Gefühl habe ich seit meiner Kindheit nicht mehr gehabt. Blut an den Knien hatte damals immer mit Urlaub zu tun. Heute hat es nichts Tröstliches mehr an sich.
»Was machen wir denn jetzt?«, wimmere ich.
Hartmut sieht am Haus hinauf. »Wenn er auf die anderen Balkone ist, muss er irgendwo in einer der Wohnungen sein. Vielleicht stand ein Fenster offen.« Er packt mich unter den Armen und zerrt mich hoch. »Komm, Soldat, wir machen eine Razzia!«
Wir beginnen auf unserem Flur. Nachbar Roland, der bei seiner Mutter in den Ferien ist, hat uns einen Schlüssel dagelassen, für alle Fälle. Wir betreten seine Wohnung, doch seine Balkontür ist fest geschlossen. Ich öffne sie und sehe nach, ob unser kleiner Kater verschüchtert auf seinem Balkon kauert, wortlos wartend, wie er es schon immer gerne getan hat. Egal, ob in Bochum oder am Haus in Hohenlohe: Verirrt sich Yannick, miaut er nicht etwa, damit er gefunden wird, sondern kauert sich still und starr zusammen, bis ihn jemand findet. Er ist nicht auf dem Balkon. Wäre auch zu einfach gewesen. Angesichts eines blitzblanken Glastisches und eines 100-Zoll-Plasmafernsehers denke ich kurz darüber nach, dass Roland für das Leben in diesem Haus recht teuer eingerichtet ist, vergesse es aber sofort wieder und gehe nach nebenan zu Cevats kleinem Bruder, der Caterina bereits geöffnet hat. Cevat übernachtet heute auf dem Firmengelände, Avni ist immer noch auf. Die Xbox läuft, er spielt Mercenaries 2, das meines Wissens nach an niemanden unter 18 verkauft werden darf. Die Maschinengewehre rattern. Der Balkon ist leer. Auch hier ist Yannick nicht aufgetaucht, Avni hätte es sofort bemerkt.
»Vielleicht ist er abwärtsgesprungen. Balkon für Balkon. Wie Mario damals.«
»Denkbar ist alles, er ist ein Kater.«
»Wir teilen uns auf«, sagt Hartmut, »jede verdammte Wohnung in diesem Gebäude. Nehmt Zettel mit. Pinnt sie an die Tür von jedem, der nicht zu Hause ist. Und notiert euch, wie die Leute heißen, damit wir nachfragen können, falls sie sich nicht melden.«
»Es ist mitten in der Nacht«, sage ich und merke direkt, wie bescheuert diese anerzogene Zurückhaltung ist.
Susanne sagt: »Das Haus übernehmen wir. Ihr sucht draußen. Ich kann nicht wie eine Wilde rumrennen, und Caterina sollte mitten in der Nacht auch nicht durch den Wedding stapfen.«
»Okay«, sage ich und gehe schon mit Hartmut den Flur hinab, »befragt jeden im Haus. Lasst niemanden aus. Niemanden! Wir durchpflügen die Gegend.«
»Wartet«, sagt Avni, kramt in einer Kiste, tritt in den Flur und gibt uns zwei massive, schwarze Stabtaschenlampen sowie zwei schwere Pistolen. Mir steht der Mund offen. Er sagt: »Schreckschuss. CS-Gas. Hier«, er zieht am Lauf, »hier entsichern, nicht näher schießen als auf einen Meter. Am besten so tun, als wäre sie echt. Fällt keinem auf. Ist einer Walter PPK nachgebildet.«
Hartmut sagt: »Woher ...«
»Sagt es nicht meinem Bruder, bitte. Ich komme in die achte Klasse. Ich muss mich schützen. Er versteht das nicht, bei ihm war das damals noch anders.«
Wir sind froh, darauf nichts erwidern zu müssen, weil die Zeit drängt, geben den Frauen einen Kuss und rennen die Treppe hinab in die Nacht.
Wir beginnen unsere Suche in der unmittelbaren Umgebung. In den Büschen rund ums Haus. Unter den parkenden Autos. In den Gärten und Hinterhöfen benachbarter Häuser. Die Mauern in Berlin sind niedrig, aber
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