Feindesland
Im Geschützturm sitzt Kommunist Konrad mit dem Luftgewehr von Cevats kleinem Bruder. Natürlich kommt bei uns keine echte Waffe zum Einsatz, aber ein Schuss mit den kleinen spitzen Kugeln kann erstaunliche Effekte haben, wenn er Auge, Kehlkopf oder Hoden trifft. Vorausgesetzt, der Schütze kann gut zielen. Konrad kann, er war als junger Mann bei der NVA.
Heiligabend werden wir unter uns in einem guten Restaurant in der Stadt feiern; danach geht es in die Heimat zu unseren Eltern. Dass Hartmut heute, am Abend des 23.12., noch eine Lesung absolvieren darf und das sogar das erste Mal in einer seriösen, modernen Buchhandlung, war reine Glückssache. Eigentlich sollte hier eine bekannte Entertainerin und Frauenbuchautorin mit launigen Geschichten auf Weihnachten einstimmen, doch sie hat abgesagt. Hartmuts Lektor hat davon Wind bekommen und ihn als Ersatz angeboten. Nun sitzen knapp vierzig Zuhörer vor der leicht erhöhten Bühne und erwarten Unterhaltung. Sie tragen Jacketts und Broschen. Sie sind nicht durch schummriges Licht und Zigarettenqualm verdeckt. Susanne, Caterina und ich sitzen rechts neben der Bühne vor einem Regal mit Schulbüchern für die Sekundarstufe II. Hartmut beginnt.
»Mein bestes Weihnachten war ein unperfektes Weihnachten. Es war derart unvollkommen, dass die öffentliche Weihnachtsfestqualitätsprüfung einen Herzinfarkt hätte bekommen müssen.« Hier hat er seinen ersten Lacher. Kein lautes Gejohle, aber ein »Wir verstehen uns«-Gekicher. »Meine Eltern hatten sich an dem Abend zerstritten. Mein Vater hatte die glorreiche Idee gehabt, der Mutter zum Fest eine neue Stereoanlage zu kaufen. Die alte war in der Tat nicht mehr in Ordnung gewesen, aber da es nun mal nicht so war, dass meine Eltern zwei separate Wohnzimmer besaßen, war ein Geschenk wie eine Stereoanlage nicht nur unromantisch, sondern im Grunde allgemeine Wohnungsausrüstung mit der Tendenz zur Bedienung durch den Vater. Er hatte sich also selbst beschenkt. Das führte dazu, dass Mutter ihm alle Verfehlungen und Egoismen der letzten zehn Jahre auftischte, auch noch später auf dem Weg zur Wohnung der Großmutter, wo Heiligabend traditionsgemäß mit ihr und weiteren Verwandten fortgesetzt wurde. Dort rissen sie sich über eine Stunde lang zusammen. Bescherung, Wurst mit Kartoffelsalat sowie Absingen weltlicher wie kirchlicher Lieder. Danach Bier. Dann ging es wieder los. Es platzte auf wie eine hastig vernähte Wunde. Ich — gerade mal siebzehn Jahre alt — verließ den Ort des Geschehens und ging zu einem guten Freund.« Hartmut sieht mich an. Ich lächle. »Der feierte allein mit seiner Mutter, in einem Hochhaus am Bahnhof. Die Mutter war sehr schweigsam an dem Abend. Ihr Mann war seit langem fort. Sie konnte damit leben, aber nicht an Weihnachten. Ihre Schwester und ihre Mutter waren der Ersatz für das Familiengefühl, jedes Jahr kamen sie an Heiligabend vorbei, schmückten nachmittags den Baum und sahen hinunter auf die letzten Züge, die Menschen zum Fest in die Heimat brachten. Nur in diesem Jahr nicht. Die Schwester war im Ausland, die Mutter bei Frau Loschelder. Sie und ihr Sohn waren allein. Wie sonst auch. Aber an dem Tag war Weihnachten. Dann platzte ich herein und schimpfte über meine Eltern, über das blöde Fest, das die Menschen so reizbar macht, weil an diesem Tag alles perfekt sein soll, obwohl es das sonst auch niemals ist. Ein Fest, das uns mehr Druck macht als eine Bombenentschärfung, bei der wir den grünen Draht nicht abknipsen können, weil alles davon abhängt, dass wir den grünen Draht abknipsen. Ich regte mich auf, ich tobte, ich warf Spekulatius über das Balkongitter, die von den Geländern unter uns spektakulär zerfetzt wurden und in tausend Krümeln auf den Vorplatz hinunterregneten. Das brachte den Knoten zum Platzen. Mein Freund, seine Mutter und ich nahmen uns vor, den Rest des Abends Weihnachten abzusagen. Wir holten eine Tonne Fastfood aus einem türkischen Laden und dazu drei Sixpacks Bierdosen, schalteten den Computer ein und spielten den ganzen Abend Wintergames, wobei wir vom Rütteln der Joysticks einen Tennisarm bekamen. Währenddessen begann es draußen zu schneien. Wir lachten, wir umarmten uns, es war wunderbar. Um zwei Uhr nachts hockten wir uns zum Ausspannen ins Wohnzimmer, rieben unsere Arme mit Teufelskrallenbalsam ein, tranken Glühwein vom Herd und hörten Peter Alexanders Weihnachtsplatte durch. Das war unvollkommen. Und das beste Weihnachtsfest meines Lebens.«
Ich
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