Feine Familie
ihn in Bewegung. Er beschleunigte rasant und kollidierte erst mit einer prächtigen Ziervase und dann mit dem bestickten Seidenparavent, der Lord Petrefacts tragbaren Nachtstuhl kaschierte. Nachdem das verdammte Gefährt den Paravent demoliert und den Nachtstuhl geleert hatte, zog es sich angewidert zurück und eilte in die entgegengesetzte Richtung. Sobald es an Lord Petrefact vorbeiratterte, unternahm dieser in seiner Verzweiflung den tollkühnen Versuch, es zum Stehen zu bringen, doch hatte der Rollstuhl es auf etwas anderes abgesehen, nämlich auf die mit unschätzbar wertvollen Jadefiguren gefüllte Glasvitrine. Gelähmt vor Entsetzen – teils weil es sich um unersetzliche Stücke handelte, teils weil sie seines Wissens nicht ausreichend versichert waren – mußte Lord Petrefact mit ansehen, wieder Rollstuhl durch das Glas brach, mehrere Mal um seine eigene Achse kreiselte und die Schätze von einem halben Dutzend Dynastien zerschmetterte, bevor er geradewegs auf ihn zusteuerte.
Aber Lord Petrefact war bereit. Er hatte nicht die Absicht, sich von seinem eigenen Rollstuhl enthaupten zu lassen oder dem Inhalt des Nachtstuhls in der Zimmerecke Gesellschaft zu leisten. Er rollte sich seitlich unters Bett und drückte sich in eine Ecke, aus der er wütend die Fußstützen des Rollstuhls anstarrte, der sich unter das Bett zu zwängen und ihn zu erwischen versuchte. Zumindest kam es Lord Petrefact so vor. Und nachdem er gesehen hatte, wozu diese Höllenmaschine fähig war, wenn sie etwas erwischte, wollte er ihr keine Chance geben. Andererseits wollte er auch nicht in diesem Wasserfall ertrinken, der mit unverminderter Vehemenz durch das Loch in der Decke stürzte und sich auf den Boden ergoß. Während er noch mit sich rang, ob er es mit dem Rollstuhl aufnehmen oder ihn in eine weniger tödliche Richtung lenken sollte, ging die Tür auf, und jemand rief: »Lord Petrefact, Lord Petrefact, wo sind Sie denn?«
Zwar versuchte der große Magnat unter dem Bett seinen Aufenthaltsort kundzutun, doch der infernalische Lärm von droben, gesteigert noch durch Schreie und das Getöse der herabstürzenden Wassermassen, erstickte seine Antwort. Daß er sein Gebiß nicht im Mund hatte, verbesserte seine Lage auch nicht gerade. Mit knirschenden Kiefern robbte er auf den Rollstuhl zu, wobei er ein Auge auf die Füße des Reanimationsteams hatte, das sich unter der Tür versammelt hatte und das Durcheinander inspizierte. »Wohin kann sich der alte Saukerl nur verkrochen haben?« fragte einer.
»Sieht aus, als wäre er plötzlich total ausgerastet«, meinte ein anderer. »Ich hab’ ja schon immer gewußt, daß der alte Knacker nicht alle Stacheln am Kaktus hat, aber das setzt dem Ganzen wirklich die Krone auf.«
Der alte Knacker unter dem Bett hätte viel darum gegebenden Sprecher besser sehen zu können. Er hätte ihm schon gezeigt, was passierte, wenn er wirklich ausrastete. Er unternahm einen letzten, verzweifelten Fluchtversuch, indem er sich ausstreckte und die Fußstützen des Rollstuhls mit einem Ruck beiseite schob. Einige Sekunden lang schien das Ding zu zögern, während die Räder in der dunklen Soße durchdrehten und dabei Lord Petrefacts Pyjamakordel erfaßten, die sich prompt um die Achse wickelte. Und dann schoß das Gefährt davon, im Schlepptau Lord Petrefact, der inzwischen überzeugt war, an einem eingeklemmten Bruch zu leiden, der das Ende bedeutete. Doch die ungeteilte Aufmerksamkeit des Reanimationsteams galt dem Rollstuhl. Diese Leute hatten in ihrem Beruf schon viel Sonderbares gesehen, aber ein leerer Rollstuhl, der verrückt spielte, war ihnen noch nicht untergekommen. Während er gewaltsam durch die Überreste des seidenen Paravents pflügte, den Nachtstuhl ummähte, von der Wand abprallte und dabei noch eine Vitrine demolierte, die diesmal eine Sammlung Meissener Porzellanfigürchen enthielt, standen sie gebannt unter der Tür.
Dies erwies sich als gravierender Fehler, da der Rollstuhl offenbar die boshaften Eigenschaften seines Besitzers (jetzt nur noch ein undefinierbarer Appendix) angenommen hatte und dank irgendeiner technischen Telepathie seine Feinde kannte. Er ratterte auf die Tür zu und donnerte mitten in die Gruppe von Ärzten hinein, bevor diese zurückweichen konnten. Für Lord Petrefact bedeutete das nur eine kurze Gnadenfrist, denn gleich darauf raste die Maschine, die weißen Kittel vor sich herschiebend, den Gang hinunter. Nachdem sie sich der Reanimisten entledigt hatte, indem sie sie
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