Feist Raymond - Die Erben von Midkemia 1
Orosini nicht schwer, über Sex und andere natürliche
körperliche Dinge zu reden, und Talon fand es seltsam erheiternd, dass alles, was mit Ausscheidungsprozessen oder mit
Sex zusammenhing, von der roldemischen Gesellschaft für
unmoralisch gehalten wurde.
»Nein«, sagte Talon. »Am nächsten käme diesem Begriff
in der Orosini-Sprache wahrscheinlich so etwas wie ›anmutig‹
oder ›schön‹, aber die Vorstellung, etwas nur um seiner selbst
willen zu tun ist … nichts, womit ich aufgewachsen bin.«
Talon hatte in diesem letzten Jahr ein wenig besser gelernt,
damit zurechtzukommen, dass sein Volk niedergemetzelt
worden war. Es tat nicht mehr so schrecklich weh, sondern
war zu einer finsteren Erinnerung geworden, die ihn hin und
wieder heimsuchte. Die quälende Verzweiflung war verschwunden, jedenfalls meistens. Das lag zum Teil daran,
dass er so viel Neues gelernt hatte, und zum Teil lag es an
Lela.
»Na dann«, sagte Leo. »Du lernst jeden Tag mehr.«
Talon stimmte zu. »Es gibt allerdings« – er korrigierte sich
– »nein, es gab ein paar Dinge, die die Frauen hergestellt haben, die man als Kunst bezeichnen könnte. Meine Großmutter
hat gemusterte Decken genäht, die alle im Dorf begeisterten.
Unser Schamane und seine Schüler haben … ihr habt kein
Wort dafür, es waren Gebetskreise mit Mustern aus gefärbtem
Sand. Sie haben manchmal tagelang gebetet und rezitiert,
während sie daran in einem besonderen Zelt arbeiteten, das
ausschließlich zu diesem Zweck aufgestellt wurde. Wenn sie
fertig waren, hat sich das ganze Dorf versammelt, um das
Ergebnis zu sehen und zu singen, während der Wind die Gebete zu den Göttern trug. Diese Sandkreise waren sehr
schön.« Talon hielt inne. »Die Gemälde, die Kendrick im
Speisesaal aufgehängt hat …«
»Ja?«, fragte Leo.
»Ich wünschte, ein paar Decken meiner Großmutter und
die Gebetskreise aus Sand hätten auch auf solche Weise aufbewahrt werden können, an einer Wand aufgehängt, damit die
Leute sie sehen können. Sie waren so schön.«
»Ein Auge für Schönheit, junger Talon, ist eine ganz besondere Begabung«, erklärte Leo.
In diesem Augenblick kam Lela herein.
»Da wir gerade von Schönheit sprechen …«, murmelte Leo
grinsend.
Talon schaute das Mädchen an und lächelte. Bei seinem
Volk hatte man in Gegenwart von Fremden keine Gefühle
gezeigt, aber er betrachtete das Küchenpersonal inzwischen
als seine Familie, und alle wussten von seiner Beziehung zu
Lela. Er hatte im vergangenen Jahr fast jede Nacht in ihrem
Bett verbracht. Immerhin war er beinahe sechzehn und nach
den Maßstäben seines Volkes ein Mann. Hätte dieser Angriff
auf sein Dorf nicht stattgefunden, wäre er nun verheiratet und
vermutlich Vater gewesen.
Lela erwiderte sein Lächeln.
»Welchem Umstand verdanken wir dieses Vergnügen?«,
fragte Leo. »Bist du fertig mit Waschen?«
»Ja«, erwiderte sie schnippisch. »Meggie und Martha falten die letzte Bettwäsche, und ich bin hergekommen, um zu
sehen, was hier zu tun ist.«
»Aber selbstverständlich«, sagte der Koch leise lachend.
Er schob Talon sanft beiseite, tauchte einen Löffel in die
Soße, die der junge Mann zubereitet hatte, und probierte sie.
Er starrte einen Augenblick nachdenklich ins Leere, dann
sagte er: »Schlicht, aber … langweilig.« Seine Finger tänzelten über die kleinen Tiegel mit den Gewürzen, griffen nach
einer Prise hiervon, einem Spritzer davon und fügten sie der
Soße hinzu. »Diese Soße hier ist für Huhn, Junge, ein langsam gebratenes Huhn, und das bedeutet, dass das Fleisch
keinen so kräftigen Geschmack hat wie diese wunderbaren
Rebhühner und Truthähne, die du von der Jagd heimbringst.
Die brauchen nur eine einfache Soße, die den Geschmack
des Vogels hervorhebt. Diese Soße hier soll dem Huhn Geschmack verleihen. Hier!« Er hob den Löffel an Talons Lippen. »Probiere!«
Talon tat es und nickte. Das war genau die Soße, die er hatte zubereiten wollen. »Du meinst also, ich hätte mehr Gewürze nehmen sollen, Leo?«
»Doppelt so viele, Junge, doppelt so viele.« Der Koch legte
den Löffel hin und wischte sich die Hände an der Schürze ab.
»Und jetzt sei ein guter Junge und hilf Lela beim Gemüseputzen.«
Talon nickte und ging zu dem großen Holzbecken, das sich
an der hinteren Wand der Küche befand. Es hatte einen Abfluss, der durch die Wand führte und in eine Rinne überging,
die am Fundament des Gebäudes entlang verlief, dann in eine
unterirdische
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