Feist Raymond - Die Erben von Midkemia 1
zurück und blieben eine Weile dort.
Sie waren gerade zu einer weiteren dieser Reisen aufgebrochen und würden wohl auch noch nicht wieder da sein, wenn
Talon zurückkam.
Talon hatte eine Weile versucht, die Beziehungen der
Menschen im Gasthaus nach den Maßstäben seines eigenen
Volkes zu verstehen, bis ihm klar geworden war, dass dies
jegliches Verständnis nur erschwerte. Er wusste, dass
Kendrick irgendwo einen Sohn hatte, den er nur selten erwähnte. Er wusste, dass Leo und Martha Mann und Frau waren, aber keine eigenen Kinder hatten. Er wusste auch, dass
Lars und Meggie hin und wieder Geliebte waren, obwohl sie
sich gerade wieder einmal in einer dieser Phasen befanden, in
denen sie kaum miteinander sprachen. Und er wusste, dass
alle ihn für Lelas Mann hielten, aber er war selbst immer noch
unsicher was Lela wohl davon hielt. Er hatte auch viel über
die Beziehungen zwischen den anderen Leuten im Gasthaus
herausgefunden – jenen, die entweder im Haus selbst oder auf
einem der nahe gelegenen Bauernhöfe wohnten, die ebenfalls
Kendrick gehörten, und das Gasthaus mit Gemüse belieferten.
Aber vieles davon kam ihm immer noch sehr fremd vor, und
obwohl er mit dem Küchenpersonal vertrauter geworden war,
fühlte er sich ohne die traditionellen Bindungen von Familie
und Clan isoliert.
Er schob diese Gedanken beiseite, denn wenn er an seine
verlorene Vergangenheit dachte, führte das nur dazu, dass er
traurig wurde, und er wusste, er musste das Beste aus dem machen, was das Leben ihm zu bieten hatte. Er sah zu, wie der See
größer wurde, als sie den Wald verließen. Und als sie über einen weiteren Hügel kamen, konnte er die Stadt Latagore sehen.
Die Mittagssonne schuf scharfe Kontraste: Ecken und Kanten, Umrisse und Konturen. Talons Augen weigerten sich
beinahe, das Durcheinander zu begreifen, aber dann tauchte
langsam so etwas wie Ordnung auf. Kendricks Gasthaus war
das größte Gebäude gewesen, das er bisher gesehen hatte, und
daher war er nun beinahe überwältigt von der schieren Größe
der Stadt. Latagore lag am Ufer einer Bucht, die mehrere Meilen breit war, und von weitem sah es so aus, als wäre die Stadt
von einer riesigen Hand in eine Biegung der Küstenlinie gedrückt worden.
Caleb warf Talon einen Blick zu und sah, wie der Junge
staunte. »Was siehst du da?«
Talon kannte diese Frage schon. Robert stellte ständig solche Fragen, ebenso wie Magnus, wenn er Talon unterrichtete.
Es ging dabei nicht um Talons Eindrücke oder Gefühle, sondern um die Einzelheiten seiner Beobachtungen – um Fakten,
wie Robert es ausdrückte.
Talon begann sofort zu analysieren. »Die Stadt ist von einer
Mauer umgeben, die sich bis ins Wasser erstreckt … ich schätze, hundert Schritt oder weiter ins Wasser.« Er kniff die Augen
zusammen. »In der Stadtmitte gibt es ein großes Gebäude, das
hoch genug ist, um von dort aus meilenweit ins Land sehen zu
können. Ich weiß nicht, wie man so etwas nennt.«
»Man nennt es eine Zitadelle. Dort befand sich einmal eine
Burg, um diesen Teil des Ufers zu verteidigen. Die Stadt ist
rings herum gewachsen.«
»Es gibt fünf große … Dinger, die ins Wasser hineinragen.«
»Kais.«
Talon ließ den Blick wandern, denn er war verblüfft über
die Größe des Sees. Das konnte doch sicher kein See sein; es
musste sich um ein Meer handeln!
Calebs Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Was
noch?«
Talon begann, die Einzelheiten aufzulisten, die ihm durch
seine beinahe übernatürliche Sehkraft deutlich wurden. Jedes
Mal, wenn er etwas entdeckte, das er nicht kannte, beschrieb
er es ausführlich. Caleb lieferte ihm das Wort, und sie machten weiter.
Als sie die Ebene erreichten, auf der die Stadt lag, konnte
Talon nicht mehr so viel sehen und war gezwungen, sich auf
seine Erinnerung zu verlassen. Als sie schließlich ein Gehölz
erreichten, das jeden Blick zur Stadt abschnitt, sagte Caleb:
»Das hast du gut gemacht. Ein paar Dinge sind dir entgangen,
aber schließlich ist diese ganze Sache mit der Aufmerksamkeit dir ja auch noch neu.«
»Aufmerksamkeit für was?«, fragte Talon.
Caleb lächelte – was selten vorkam – und sagte: »Für alles.
Du solltest auf alles achten.«
»Warum?«
Sie fuhren weiter, durch den Wald und an einer Wiese vorbei, während Talon immer noch auf seine Antwort wartete.
Schließlich sagte Caleb: »Wenn du jagst, worauf achtest du
dann?«
»Auf alles«, antwortete Talon. »Auf die Windrichtung, die
Gerüche in der
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