Feist, Raymond - Die Erben von Midkemia
älter als dein Vater.«
Er grinste. »Du hast uns gesagt, daran sollten wir dich nicht erinnern.«
Sie erwiderte das Lächeln, denn obwohl sie wirklich nicht eitel war, spielte sie diese Rolle, um ihren Mann und ihre Kinder zu ärgern. Das war einer ihrer Fehler, aber ein kleiner. »An was man sich erinnert, ist wirklich. Es ist egal, wie genau deine Erinnerung an etwas sein mag, für dich ist sie echt. Was du als Wirklichkeit wahrnimmst, ist Wirklichkeit.«
»Ich bin nicht sicher, ob ich das verstehe«, sagte Caleb.
»Das bezweifle ich nicht, denn von uns allen lebst du am meisten in einer wirklichen Welt, Caleb. Du gibst dich nicht mit den abstrakten Konzepten der Magie ab. Du lebst ein Leben mit Dingen, die du berühren, sehen, riechen kannst. Du bist draußen im Wald, jagst, liest Spuren …« Sie unterbrach sich.
»Sagen wir mal, du siehst eine Bären
181
spur. Kunstvoll hergestellt, stammt sie in Wirklichkeit von Stiefeln, die es so aussehen lassen, als wäre ein Bär vorbeigekommen.«
Caleb schüttelte den Kopf. »Die Tiefe der Spuren würde nicht stimmen, denn ein Bär wiegt…«
Miranda hob die Hände. »Darum geht es nicht. Nehmen wir also an, ich benutze Magie, um perfekte Bärenspuren zu schaffen, und du findest sie. Was denkst du?«
»Perfekt?«, fragte er und war nicht sicher, ob das möglich war. Schließlich zuckte er die Achseln. »Also gut, ich finde diese perfekten Bärenspuren. Ich denke, du bist ein Bär.«
»Genau. Du folgst ihnen und erwartest einen Bären, und bis zu dem Augenblick, in dem du entdeckst, dass ich die Spuren gemacht habe, denkst du: >Bär, Bär, Bär.< Und später, wenn du entdeckst, dass es kein Bär war, was passiert dann?«
»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich würde ich über den Witz lachen.«
Sie hätte beinahe die Augen verdreht, aber dann widerstand sie der Versuchung. »Bis zu dem Moment, an dem du entdeckst, dass ich die Spuren gemacht habe, würdest du, wenn dein Bruder erschiene und fragte, was du tust, sagen, du verfolgst einen Bären. Aber in dem Augenblick, wenn du entdeckst, dass ich die Spuren hergestellt habe, denkst du: >Mutter hat die Spuren gemachte« Sie sah ihm in die Augen. »Verstehst du?«
»Ich bin nicht ganz sicher.«
»Deine Wahrnehmung hat sich verändert. Von diesem Augenblick an, ob du an diese besondere Spur denkst oder jemandem die Geschichte erzählst, weißt du: >Mutter hat diese Spuren gemachte Du wirst jemandem vielleicht sogar sagen: >Ich dachte, es war ein Bär<, aber in deinem Kopf würde es keinen Bären mehr geben.«
181
»Keinen Bären«, murmelte Caleb und sah nun noch verwirrter aus.
Miranda lachte. »Wenn ich dich nicht zur Welt gebracht hätte, würde ich mich fragen, wer deine Eltern wirklich waren.«
»Ich bin nicht dumm, Mutter.«
»Ich weiß«, sagte sie und lachte noch mehr. »Es ist nur so, dass du lediglich die wirkliche Welt der Dinge magst, die du berühren, riechen und fühlen kannst.« Ihre Heiterkeit verschwand. »Dein Vater lebt in einer Welt des Geistes, mehr als jeder, den ich kenne, und das schließt mich selbst und deinen Großvater ein. Eines Tages wird dein Bruder ihn vielleicht übertreffen, aber Magnus muss ein ganzes Leben an Erfahrung ansammeln, um deinen Vater einzuholen. Dein Vater hat jedoch mit allen anderen gemein, dass die Erfahrungen seines Lebens für ihn wirklich sind, und seine Wahrnehmung dieser Erfahrungen hat sich vielleicht verändert, aber nicht seine Gefühle darüber.«
Plötzlich verstand Caleb. »Ich kann mich also immer noch daran erinnern, wie ich mich fühlte, als ich dachte, dass ich den Bären verfolgte, obwohl ich jetzt aufgehört habe, von ihm als einem Bären zu denken!«
»Ja! Dein Vater hat in seiner Jugend viel Leid und Schmerzen ertragen müssen, und seitdem noch mehr, aber den Schwierigkeiten, denen er jetzt gegenübersteht, begegnet er als Mann mit einem Leben reich an Erfahrung und schwer gelernten Lektionen. Die Gefühle seiner Jugend, so gedämpft sie inzwischen sein mögen, sind allerdings immer noch die Gefühle seiner Jugend, so, wie er sie damals gespürt hat. Hat er dir je von Prinzessin Carline erzählt?«
»Nicht dass ich mich erinnern würde.«
»Sie war die Tochter von Lord Borric und durch Adop 182
tion eine Art >Kusine< von Pug, aber als er noch ein Junge in der Küche der Burg Crydee war, glaubte er, in sie verliebt zu sein. Das Schicksal hat ihm Gelegenheit gegeben, dieser Empfindung zu folgen, und ihm dann diese Gelegenheit wieder
Weitere Kostenlose Bücher