Feist, Raymond - Die Erben von Midkemia
menschlicher Tücke, und sie unterschätzten sie gewaltig.
Sie schob ihre Spekulationen über die Dasati beiseite 5
und wandte die Aufmerksamkeit ihren Fluchtmöglichkeiten zu. Nachdem sie von Leso Varen und den Todespriestern gefangen genommen worden war, hatte sie rasch begriffen, dass es das Beste wäre, ihren Folterern gerade genug Wahrheit zu verraten, um das, was sie sagte, glaubwürdig zu machen. Varen, dessen bösartiges Bewusstsein derzeit den Körper eines Tsurani-Magiers namens Wyntakata bewohnte, war seit ihrer Gefangennahme nicht wieder erschienen, eine Tatsache, für die sie dankbar war, denn seine Anwesenheit hätte den Dasati nur Vorteile verschafft. Sie wusste, Varen hatte seine eigenen verrückten Pläne und würde nur so lange mit den Dasati verbündet bleiben, wie es ihm passte. Ihn interessierte nur sein eigener Erfolg, nicht der kranke Ehrgeiz dieses fremden Volkes.
Sie öffnete die Augen. Wie erwartet, waren die Dasati weg. Einen Moment lang hatte sie sich Sorgen gemacht, dass einer vielleicht schweigend und reglos zurückgeblieben war, um sie zu beobachten. Manchmal sprachen sie freundlich mit ihr, als unterhielten sie sich mit einem Gast, zu anderen Zeiten setzten sie sie körperlicher Gewaltanwendung aus. Es schien wenig Muster oder Sinn hinter ihrem Verhalten zu geben. Zuerst hatten die Todespriester ihr gestattet, ihre Kräfte zu behalten, denn sie waren vollkommen von sich überzeugt gewesen und hatten sehen wollen, wozu Miranda imstande war.
Aber am vierten Tag ihrer Gefangenschaft hatte sie einen Todespriester mit der vollen Wut ihrer Magie angegriffen, als dieser sich herausgenommen hatte, ihren nackten Körper zu berühren. Danach hatten die Dasati Mirandas Kräfte mit einem Zauber gezügelt, der jeden ihrer Versuche vereitelte, ihre Magie anzuwenden.
Die kreischenden Nerven in jedem Zoll ihres Körpers erinnerten sie daran, dass die physischen Folgen ihrer Folter nicht verschwunden waren. Sie holte lange und tief Luft und nutzte all ihre Fähigkeiten, um den Schmerz zu verringern.
Noch einmal schöpfte sie tief Luft und versuchte zu überlegen, ob das, was sie gerade von ihren Feinden gelernt hatte, der Wahrheit entsprach oder ob sie sich nur an eine leere Hoffnung klammerte. Sie zwang sich, auf neue Art zu denken, setzte einen kleinen Zauber ein und sprach dabei die Worte so leise, dass kaum ein Geräusch entstand. Und die Schmerzen sickerten tatsächlich langsam aus ihr heraus! Endlich hatte sie entdeckt, wonach sie gesucht hatte.
Sie schloss die Augen und stellte sich noch einmal das Bild vor, das sie bei der Folter vor Augen gehabt hatte. Sie wusste intuitiv, dass sie etwas äußerst Wichtiges gefunden hatte, aber ihr war immer noch nicht vollkommen klar, um was es ging. Einen Augenblick wünschte sie sich, sie könnte irgendwie mit Pug oder seinem Freund Nakor kommunizieren, denn beide verfügten über mehr Einsichten über das Wesen der Magie als sie selbst, bis hin zu den Grundlagen der Energien, die Magier nutzten - was Nakor beharrlich als
»Stoff« bezeichnete. Sie lächelte dünn und holte noch einmal tief Luft. Sie hätte gelacht, wenn ihre Schmerzen nicht immer noch sehr heftig gewesen wären.
Nakor wäre entzückt. Ihre neuen Informationen über das Reich der Dasati waren etwas, was ihn sehr erfreuen würde: Der »Stoff« dieser Ebene war ähnlich wie die Energien, die jeder Magier auf der Insel des Zauberers kannte, aber es war … Wie würde Nakor es ausdrücken?, fragte sie sich. Es war verdreht. Es war, als bewegten sich die Energien in einem Winkel zu dem, was sie kannte. Sie fühlte sich, als müsste sie wieder neu laufen lernen, nur diesmal musste sie »zur Seite« denken, wenn sie sich vorwärtsbewegen wollte.
Sie dehnte ihren Geist aus und ließ mentale »Finger« die Schnallen ihrer Fesseln berühren. Es kostete sie nur wenig Anstrengung, sie zu lösen. Rasch befreite sie sich.
Sie setzte sich auf, bewegte Schultern, Rücken und Beine und spürte, wie mehr Blut in ihre Glieder zurückkehrte, zusammen mit Schmerzen, die bis ins Mark zu gehen schienen. Miranda maß ihr Leben in Jahrhunderten, aber sie sah nicht älter aus als vierzig. Sie war schlank, aber überraschend stark, denn es gefiel ihr, auf der Insel des Zauberers über die Hügel zu wandern und lange im Meer zu schwimmen. In ihrem dunklen Haar gab es nur wenig Grau, und ihre dunklen Augen waren klar und jugendlich. Die Auswirkungen der Magie schenkten einigen Leuten offenbar ein langes
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