Feist, Raymond - Die Erben von Midkemia
tödlich, sondern auch wirr und hoch kompliziert, ein stets sich verändernder Balanceakt eines jeden Herrschers, der Blutloyalität auf der einen Seite gegen Zweckdienlichkeit auf der anderen abwägen musste.
Miranda begann ihre Ansprache. »Majestät, Herren und Damen des Hohen Rates, wir kommen heute mit einer Warnung, denn dieser Welt droht die schrecklichste Gefahr, die man sich vorstellen kann.«
Miranda hatte alles, was sie sagen würde, eingeübt, während sie und die Erhabenen auf das Zusammentreten des Rats gewartet hatten, und sie kam rasch von der Entdeckung des Talnoy auf ihrer Welt durch Kaspar von Olasko auf das neuerliche Eindringen der Dasati auf Kelewan. Sie beschönigte nichts, und sie fühlte sich nicht versucht, etwas auszuschmücken. Die reine Wahrheit war erschreckend genug. Als sie fertig war, sah sie, dass der Kaiser ruhig dasaß, und erkannte, dass er von nichts, was sie gesagt hatte, überrascht zu sein schien. Sie warf einen Blick zu Alenca, der kaum merklich den Kopf schüttelte und ihr damit mitteilte, dass er diesen Mangel an Reaktion ebenso wenig verstand. Sie wusste, dass das Licht des Himmels stets über alles informiert worden war, was den Talnoy anging, aber sie war auch überzeugt, dass nichts von den Geschehnissen seit ihrer Gefangennahme weitergegeben worden war. Das Eindringen der Dasati musste für den jungen Kaiser ein Schock sein, aber er saß so ruhig da, als dächte er darüber nach, was er zum Abendessen haben wollte. Kaiser Sezu hatte den Thron erst vor vier Jahren bestiegen und wie sein Vater vor ihm ein relativ friedliches Reich regiert.
Miranda wandte die Aufmerksamkeit vom Licht des Himmels zum Hohen Rat.
Wieder einmal war sie verblüfft über die Tsurani, denn obwohl sie gerade eine wirklich erschreckende Warnung ausgesprochen hatte, war etwa ein Drittel der Anwesenden damit beschäftigt, sich zu fragen, welche Vorteile sie in dem kommenden Chaos erlangen könnten, und ihren Mienen nach zu schließen schien ein weiteres Drittel nicht imstande zu sein, vollkommen zu begreifen, was sie gerade gehört hatten. Es war das letzte Drittel, Leute, die tatsächlich verstanden, wovon sie gesprochen hatte, die erkannten, in welcher Gefahr sie schwebten, die das angemessene Entsetzen zeigten und still auf das Licht des Himmels warteten. Das unruhige Rascheln von Seide und das nervöse Scharren von Ledersandalen auf dem Boden bildeten einen Kontrapunkt zu der Stille, während alle darauf warteten, dass der Kaiser etwas sagte.
Neben dem jugendlichen Herrscher stand ein weiterer Magier in schwarzem Gewand, ein älterer Mann namens Finda, den Miranda nur vom Sehen kannte.
Er war der derzeitige Berater der Versammlung am Kaiserlichen Thron, und nach seiner Miene zu urteilen wäre er wohl in diesem Augenblick am liebsten irgendwo anders im weiten Tsurani-Reich gewesen, irgendwo, nur nicht hier.
Miranda war keine Expertin für die Gesellschaft der Tsurani wie ihr Mann -Pug hatte jahrelang hier gelebt -, aber sie verstand sie gut genug, um ein Gefühl dafür zu haben, wie die herrschenden Familien wahrscheinlich reagieren würden. Die kriegerische Tradition der Tsurani dominierte immer noch die Politik des Reiches, das »Spiel des Rates«, wie man es nannte, aber statt bewaffneter Auseinandersetzungen gab es nun neue Mittel, Herrschaft auszuüben und Einfluss zu nehmen: Wohlstand, Einfluss und Position in der Gesellschaft. Natürlich kam es hin und wieder doch zu einem Mord, einem mitternächtlichen Überfall oder einer Entführung.
Manchmal erinnerte die Tsurani-Politik Miranda an die Verbrecherkriege in Groß-Kesh; die Spötter von Krondor hätten ebenfalls gut hierhergepasst.
Fünf große Familien - Keda, Minwanabi, Oaxatucan, Xacatecas und Anasati - dominierten immer noch die vielen Klans und politischen Familien, die über das Reich herrschten. Traditionell waren sie die einzigen Familien gewesen, die den Titel eines Kriegsherrn beanspruchen konnten, bis die Urgroßmutter des derzeitigen Kaisers die Macht für ihren Sohn ergriff. Aber eine Konstante blieb erhalten: der Kaiser. Das Licht des Himmels konnte sämtliche Beschlüsse des Hohen Rats für null und nichtig erklären. Er konnte Krieg befehlen oder Klans, die sich in einer Fehde befanden, anweisen, die Waffen niederzulegen - je nach Laune. So groß war seine Macht.
Alle warteten, während der Kaiser auf dem goldenen Thron, seit zweitausend Jahren der Machtsitz des Kaiserreichs, über seine Antwort nachdachte.
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