Feldpostnummer unbekannt
trugen und im Krieg waren. Und seine Sorge zerfloß zu seiner einzigen Angst, und die Angst lief in einen einzigen Wahn über, daß seine Frau, die Mutter seiner Kinder, nie wieder einen Sohn verlieren sollte. Er betete darum, und er verzweifelte darüber. Und der Angst wuchsen täglich neue Beine und der Hoffnung neue Flügel.
Anfang August stand Heinz Böckelmann der Mutter seines Freundes gegenüber, die es ihm so leicht machte, weil sie sich gefaßt gab. Im Hintergrund hing Gerds Bild an der Wand. Darunter standen wie verloren Blumen. Der Freund lächelte auf der Fotografie, jung und sorglos. Aber Böckelmann begriff, daß dieses Gesicht nie wieder weinen oder lachen könnte.
»Es ist ganz schnell gegangen …«, sagte er zu Frau Kleebach. »Gerd kann es eigentlich gar nicht richtig mitgekriegt haben …« Er hatte noch nie im Leben besser gelogen und auch noch nie berechtigter. Der raue Bursche war längst nicht so oberflächlich, wie er sich seinen Kameraden gegenüber zu geben pflegte. Und durch den natürlichen Takt seiner Worte schimmerte das Leid, das ihn selbst getroffen hatte.
»Bleiben Sie noch«, sagte Mutter Kleebach, die sich zurückzog, weil es nun doch für sie zuviel wurde. »Und kommen Sie wieder … ja? … Bitte …«
Sie hatte sich mit Gerds Tod nicht abgefunden, sie würde es nie können. Aber sie zeigte Haltung, um es den anderen leichter zu machen. Nur wenn sie allein war, las sie seine Briefe, und dann weinte sie. Im übrigen verteilte Frau Kleebach ihre Sorge auf die fünf Kinder, die ihr geblieben waren.
Achim, der Jüngste, mußte zum Arbeitsdienst einrücken; Thomas, der Älteste, stand noch bei seinem Ersatztruppenteil in der Heimat und mußte bald wieder hinaus; Marion arbeitete bei einer Berliner Firma als Sekretärin; von Fritz, dem begeisterten Flieger, war gerade ein Brief angekommen; und Freddy hatte einen angenehmen Posten bei der Standortverwaltung der Reichshauptstadt, obwohl er voll kv. war. Er drückte sich herum, nicht aus Feigheit, sondern aus Überzeugung. Er war keiner, der schweigend seinen Weg auf sich nahm, wie Thomas, und er brannte nicht darauf, sich zu bewähren, wie Achim. Denn er war nicht scharf auf das Sterben, sondern gierig auf das Leben …
»Amüsiert euch gut, Kinder«, sagte er jetzt zu Böckelmann und seiner Schwester, »muß jetzt gehen … hab' leider noch Verpflichtungen heute …« Sein Lächeln genoß bereits auf Vorschuß. Er klopfte dem früheren Mitschüler Gerds, der inzwischen schmaler geworden war, und auch ernster, weil der Krieg alt macht, gönnerhaft auf die Schulter.
Böckelmann saß Marion gegenüber. Aber das Bild des Freundes an der Wand irritierte ihn. Seine Augen glitten abwärts, blieben auf den langen, rotblonden Haaren des Mädchens hängen, die sich an der feinen Linie des Nackens wie eine Girlande aufrollten. Er sah in ihre blauen Augen und glaubte, in einen klaren, unberührten Bergsee zu starren, in dem er untergehen wollte. Er ertappte sich bei diesem Gedanken und schämte sich dafür. Er stand unbeholfen auf. »Ich muß jetzt gehen«, sagte er und zögerte.
Sie lächelte ihn an. »Aber Sie kommen ja wieder«, entgegnete sie.
Böckelmann nickte. Sie ist Gerds Schwester, dachte er, und sie ist groß geworden in der Zwischenzeit. Damals war sie ein sommersprossiger Balg mit staksigen Beinen und geflochtenen Zöpfen. Und jetzt ist sie ein Mädchen, fast schon eine Frau, und eine bildhübsche noch dazu … verdammt noch mal, fluchte er in Gedanken, wenn sie bloß nicht Gerds Schwester wäre!
Marion betrachtete ihn verwundert und ein wenig amüsiert. Aber dann begriff sie, daß er mit dem Kopf wieder bei ihrem gefallenen Bruder war, und sah auf den Boden. Böckelmann ging und kam wieder, zuerst in unregelmäßigen Abständen, und dann fast jeden Tag. Er kam gerne und wurde herzlich aufgenommen. Für Mutter Kleebach war er ein Stück von Gerd, auch wenn es weh tat. Für Vater Kleebach war Böckelmann ein junger, natürlicher Bursche, der genauso sein Sohn hätte sein können. Und für Marion wurde er zu einem Freund, der nicht gar so zurückhaltend zu sein brauchte.
Sooft er bei ihr war, spürte er eine unbestimmte Erregung, und wenn er von ihr ging, eine prickelnde Unruhe. Böckelmann war gerade einundzwanzig geworden, volljährig, als er merkte, daß er sich mit unsicheren Schritten über Neuland tastete.
Die paar Überlebenden seiner Kompanie schickten ihm Feldpostbriefe aus Paris mit durchsichtigen
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