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Frieren, und nach dem Frieren das Sterben kommt.
Selbst Achim konnte seine Verdrossenheit nicht verbergen. Aus dem geplanten Stadtbummel durch Stalingrad war nichts geworden; er schritt nicht durch den Lichterglanz breiter Avenues, er trug keine Ausgehuniform, und er sah auch nicht ein Mädchen, nach dem umzudrehen sich gelohnt hätte. Wenn er aufstand, mußte er sich festhalten, um nicht umzufallen. Der Hunger machte den Kopf schwindlig und die Glieder schlapp. Dabei hatte es der Zug Kleebach vergleichsweise noch leicht: beim mörderischen Häuserkampf konnte er ein Schnapslager und eine Rübenmiete erbeuten. Die rohen Früchte fegten ihre Gedärme leer, die überreizten Magennerven spülten den Wodka wieder nach oben. Aber sie soffen bis zur letzten Flasche und kämpften bis zum letzten Schuß.
Sie waren zu müde zum Sprechen und zu apathisch zum Fluchen, und selbst Unteroffizier Hanselmann, der Bulle der Einheit, schlich mehr, als er ging. Sie dachten nicht mehr an zu Hause, sie vergaßen sogar das Grauen, sie stellten sich nur Essen vor. Warme, dampfende Kartoffeln, gebratenes Fleisch, schwabbelnden Pudding, Scheiben von Kunsthonig, und selbst die Zuckerrüben, die ihre verkrampften, entzündeten Muskeln nicht mehr bei sich behalten konnten, wären für sie jetzt eine Delikatesse gewesen. Dabei war es erst Hunger auf Probe, ein bescheidenes Vorspiel, ein harmloses Training. Es war noch nicht das langsame, einschläfernde, würgende, vernichtende, gefühllose, hinüberdämmernde, tötende Gefühl der nächsten Monate.
Achim Kleebach kontrollierte seine Vorposten. Den linken ersparte er sich, zu schlapp für den Weg. Im Mund hatte er den Geschmack seiner Zähne, aber er war so ausgetrocknet, daß er selbst bei der Vorstellung des leckersten Menüs keinen Speichel mehr hergab.
»Ich hab' dir gesagt, wie's kommt«, sagte Hanselmann gehässig, als ob den jungen Oberfähnrich die Schuld an diesem bodenlosen Hunger träfe. »Es genügt nicht, daß wir hier verrecken … wir müssen auch noch verhungern.«
»Halt's Maul!« versetzte der Pimpf. Selbst seine Stimme war schon flau.
Vorne stieg eine Leuchtkugel hoch, zerplatzte am Himmel, beleuchtete einen Pferdekadaver im Niemandsland, fast schon Aas, bei dessen Bergungsversuch heute nachmittag vier Landser des Zuges draufgegangen waren.
Nichts rührte sich. Die Russen kauerten still in ihren Löchern. Es waren nicht mehr dieselben Iwans, die bei Hitlers Überfall einfach überrollt worden waren, und die sich zu Tausenden ergeben hatten, die mit altmodischen Waffen und mangelhafter Ausrüstung kämpften und die von ihren Kommissaren vorwärts getrieben werden mußten; die Greuel der Einsatzkommandos und die barbarische Behandlung der Zivilbevölkerung hatten aus ihnen, wenn nicht linientreue Kommunisten, so doch mindestens russische Patrioten gemacht, die mit der schärfsten Waffe des Soldaten kämpften: dem Hass. Aber auch in der psychologischen Kriegführung hatten die Sowjets dazugelernt, was der Zug Kleebach noch im Laufe dieser Nacht erfahren sollte.
Der Wind drehte plötzlich, wehte jetzt direkt von den Russen herüber. Die Männer starrten in die Nacht. Aber ihre Augen tasteten nicht die Feindstellungen ab, sie wurden von dem Pferdekadaver wie von einem Magnet angezogen.
»Ich versuch's noch mal«, sagte Achim, »wer kommt mit?«
Keiner rührte sich.
»Wenn's ans Fressen geht, seid ihr alle da«, zischelte der Pimpf giftig, »aber ich geb euch nichts ab!« Der Hunger gab seinen Augen schon einen irren Ausdruck. »Ich fress' das halbe Pferd … ganz alleine!«
Er wollte sich am Grabenrand hochziehen, aber er fiel entkräftet zurück. Drei Mann faßten an, und stemmten ihn aus der Stellung. Achim robbte lautlos durch das Niemandsland, vorsichtig zuerst, und dann hemmungslos, weil er nicht den Tod vor sich sah, sondern nur Fleisch, Fleisch, Fleisch. Pferdefleisch.
Die Iwans mußten ihn längst gesehen haben, aber sie schossen ihn nicht ab. Als er bis auf fünf Meter heran war, flammten zwei Scheinwerfer auf, strichen über das Trümmerfeld, und blieben genau auf dem zerfetzten Pferd stehen. Minutenlang. Die Männer in der deutschen Stellung konnten sie nicht zertrümmern, denn sie mußten Munition sparen. Achim wartete. Noch ein paar Minuten. Dann stand er auf und ging mit langsamen Schritten aufrecht zurück, weil ihm schon alles gleich war.
Und noch einmal ließen ihn die Russen laufen. Der Junge plumpste wie ein Sack in die Stellung. Sein Gesicht war
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