Feldpostnummer unbekannt
nicht …«, erwiderte er.
»Hauptsache, daß du nicht mehr nach Afrika mußt«, fuhr sie fort, »vielleicht ist Russland nicht ganz so schlimm …«
»Vielleicht …«, antwortete Thomas. »Schlaf jetzt.«
Er wartete, bis Luise wieder regelmäßig atmete. Er kannte diese Nächte vor der Abfahrt, aber so schwer wie diesmal war es ihm noch nie gefallen. Er nahm sich vor, sich in zwei Stunden davonzustehlen und wußte, daß er es doch nicht fertigbringen würde. Er hörte einen Lokomotivpfiff und dachte daran, daß ihn die Eisenbahn morgen fast 3.000 Kilometer von seinen Eltern und Luise wegschaffen würde. 3.000 Kilometer, gespickt mit Minen, durch den Hinterhalt von Partisanen, quer durch ein riesiges Land, das ein politischer Narr überfallen hatte.
Seine Gedanken waren nicht beim Vormarsch, sondern auf dem Rückzug, bis sie sich wieder auf Luise konzentrierten, deren Gesicht plötzlich zuckte. Sie atmete schwer. Und jetzt sah Thomas, daß sie weinte. »Luise …«, sagte er leise.
»Ich hab' so Angst«, versetzte sie, »so furchtbare Angst …«
Dann schlugen die Turmuhren ein Uhr, die erste Stunde des Tages und die siebtletzte des Genesungsurlaubes …
Und weiter rollte der stürmische Vormarsch – in einen infernalischen Untergang. Hitler wollte Stalingrad nehmen, um jeden Preis – und dieser Preis waren 300.000 deutsche Soldaten, vorwiegend der 6. Armee, die am 23. Juli 1942 aus der Wolfsschanze den Befehl erhalten hatten, in exzentrischer Operation auf das Wolga-Zentrum und Batum-Baku vorzustoßen. Der Führer hatte aus dem Vorjahrsfiasko von Moskau nichts gelernt und brüllte die ohnedies zahmen Einwände seiner Generale nieder; sie kuschten wie immer und machten sich so zu Eckenstehern der größten militärischen Tragödie, die die Kriegsgeschichte kennt: Stalingrad …
Der Zug des Oberfähnrichs Achim Kleebach, der inmitten dieses Aufmarsches steckte, war noch einmal davongekommen und hatte dem dritten russischen Angriff bei dem Sumpfgelände so lange widerstanden, bis er aus der Tiefenstaffelung des deutschen Angriffs heraus entsetzt wurde. Kurze Zeit später wurde der größte Teil der Fahrzeuge vom Werkstattzug wieder klar gemeldet, und so schloß die Einheit zur Vorausabteilung auf, rollte an Landsern, Leibern und Leichen vorbei im zügigen Vormarsch Tag und Nacht in Richtung Stalingrad.
Die Südarmee wurde geteilt. Die Heeresgruppe A zog zum Kaukasus, während die Heeresgruppe B, gebildet aus der 6. Armee, der 4. Panzerarmee, der 2. Armee, verstärkt durch ungarische, rumänische und italienische Verbände, am 23. August über den Don zur Wolga nördlich von Stalingrad vorgestoßen war. Blutige Kämpfe in den Vorstädten Stalingrads, bei den Fabrikanlagen ›Rote Barrikade‹ und ›Roter Oktober‹. Die Sowjets verteidigten Stalingrad wie nie etwas zuvor. Die 6. Armee kam nur schrittweise voran, zumal der Nachschub stockte, teils wegen des verstärkten Partisanenkriegs; zudem mußten ab Rostow die Bahngeleise auf deutsche Spurweite umgestellt werden. Mittlerweile hatte die Wehrmacht zwei Drittel der Stadt erobert, aber die Russen hielten einen Brückenkopf an der Wolga, und der Vormarsch endete in einem verbissenen Stellungskrieg.
Die Munition wurde knapp. Die Verpflegung kam häufig nicht nach vorne. Die Befestigung deutscher Stellungen scheiterte am Materialmangel. Die Landser mußten sich notdürftig aus dem ausgepowerten Land selbst versorgen. Hitler kannte sehr wohl die Nachschubschwierigkeiten, aber der Reichsmarschall Göring versprach ihm, das Versorgungsproblem von der Luft aus zu lösen; er hatte zwar auch schon einmal versprochen, daß es keinem Feindflugzeug gelänge, die deutsche Reichsgrenze zu überfliegen, aber das hatte sein Führer inzwischen offensichtlich vergessen.
Der Zug Kleebach durchstand den verlustreichen Kampf um die Fabrik ›Dshershinskij‹ und krallte sich in einem Trümmerfeld fest. Da die Fahrzeuge abgegeben werden mußten, kämpften die Panzermänner von da ab als ganz gewöhnliche Infanteristen.
Die Nacht war feucht und kalt. So der Himmel noch Sterne hatte, versteckte er sie. Vor zwei Tagen hatten Achims Männer im wilden Hunger die eiserne Verpflegung aufgegessen, seitdem schoben sie Kohldampf. Sie hatten die Leere im Gehirn, ein Loch im Bauch und Russland satt bis zum Kinn – und dabei wußten sie noch nicht, daß sie erst ganz unten auf der Stufenleiter ihrer Leiden standen, und daß nach dem Hunger das Grauen, und nach dem Grauen das
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