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Feldpostnummer unbekannt

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Titel: Feldpostnummer unbekannt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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eine Maske der Verzweiflung, aber seine Augen wirkten noch gierig.
    »Diese Säue!« knirschte er, »die machen mit uns …« Er sparte den Rest des Satzes. Seine Kameraden wußten ohnedies, was die Sowjets mit ihnen machten.
    Noch immer blieb es ruhig. Gespenstisch still. Selbst die MG's im Nachbarabschnitt legten eine Feuerpause ein. Jetzt konnte man den Wind nicht nur sehen, sondern auch riechen.
    »Erbsensuppe«, sagte Unteroffizier Hanselmann und hob den Kopf, »Erbsen mit Kartoffeln und Speck … Mensch.«
    Sie glotzten mit hohlen Augen nach drüben, und auf einmal war der Hass stärker als die Apathie. Sie hätten gerne ihr Leben für ein Kochgeschirr mit Erbsen in die Schanze geschlagen, so ihnen nur bei einem Angriff eine Chance bleiben würde. So hockten sie herum, zusammengekauert, schluckten, aßen jeden Bissen auf der anderen Seite mit, und wurden doch nicht satt davon.
    Achim ließ den Kopf auf seinen Arm sinken; er mußte sich zusammenreißen, um nicht zu schluchzen. Seine Phantasie trieb ihn in eine Hexenküche. Er war zu Hause, seine Mutter kochte seine Leibspeise, der Tisch wurde weiß gedeckt, und das Silberbesteck aus der Truhe geholt, das bei den Kleebachs ganz großen Anlässen vorbehalten war. Und jetzt schluckte Achim nicht bloß, er kaute auch, pedantisch, schlingend, knirschend, mit stetem Blick auf den Rest der Mahlzeit- und dann begriff er gequält, daß er nicht in der sauberen Küche seiner Mutter war, sondern in der kalten Küche Stalingrads.
    Er hörte ein Geräusch und sah nach links. Es war der Professor, Sawitzky mit der Nickelbrille. Seine Kiefer mahlten fast lautlos. Aber der barbarische Hunger schärfte Achims Gehör. Er schlich auf den Professor zu. Von hinten schnappten seine Hände vor, und entrissen dem Jungen eine halbe, rohe Kartoffel. Die anderen sahen es, und stürzten sich auf den Professor. Zwei hielten ihn fest, die anderen durchwühlten seine Taschen und fanden noch eineinhalb Erdfrüchte, die sie zu fünft aßen.
    »Du bist ein Schuft ohne Kameradschaft!« fauchte ihn der Oberfähnrich kauend an.
    Der kleine Sawitzky weinte wie ein Kind, nicht wegen des Tadels, sondern wegen der Kartoffeln.
    Plötzlich dröhnte auf der anderen Seite ein Lautsprecher, so nahe, daß man meinte, er sei nur wenige Meter von der deutschen Stellung entfernt.
    »Mal herhören!« rief ein Russe im akzentfreien Deutsch, »Landser, seid nicht dämlich! Werft eure Knarre weg und kommt zu uns! Wir kämpfen nicht gegen euch, sondern gegen Hitler, der satt in seinem Bunker hockt, während ihr hier verheizt werdet … Kommt zu uns, habt keine Angst! Die Faschisten lügen! Ihr werdet anständig behandelt und erstklassig verpflegt!«
    Die Stimme schwieg. Nur der Wind säuselte noch. Wind, gemischt mit Essensduft.
    »Diese Drecksäcke!« röchelte Achim mehr, als er sprach. Er griff nach seiner MP und suchte den Lautsprecher, aber es war nichts zu sehen.
    Und dann kam von drüben, wehend, getragen die Melodie, exakt arrangiert im Viervierteltakt, weich, lockend, versuchend: »Heimat, deine Sterne …«, klang es aus der russischen Stellung, wurde verstärkt und wehte weit über die HKL, wo jetzt die Sehnsucht über den Hunger herfiel.
    »Die leuchten mir auch am fernen Ort …«
    Erbsensuppe. Melodie. Viervierteltakt. Kohldampf. Erbensuppe. Illusion. Heimat. Schlucken. Mutter. Kohldampf. Erbsensuppe. Braut. Rhythmus. Stimme:
    »Der Himmel strahlt wie ein Diamant …«
    Die Platte setzte aus. Der Propagandasprecher meldete sich wieder: »Wenn ihr in eure Heimat zurückwollt, dann hebt die Hände und kommt zu uns! … Wenn ihr Sehnsucht nach euren Frauen habt, ergebt euch! … Nur dann seht ihr sie wieder … Und dann gibt's bei uns heute Erbsensuppe … Erb-sen-sup-pe …« Er betonte die Silben so deutlich, als ob er ihnen jede Erbse einzeln vorzählen wollte. Der Schall brach an zerschossenen Fabrikmauern, geisterte zurück durch den Wirrwarr improvisierter Stellungen, folterte die Sinne, und potenzierte den Hunger: »Erb-sen-sup-pe …«
    Sie hielten sich die Ohren zu. Sie zogen den Kopf zwischen die Schultern. Sie verkrallten die Schneidezähne in die Unterlippe.
    »Die machen uns fertig«, sagte Unteroffizier Hanselmann gepreßt, »fix und fertig.«
    Neue Platte, alter Duft.
    Die Illusion wurde so übermächtig, daß der kleine Sawitzky sich am Grabenrand festhielt, und seinen Magensaft in den Dreck kotzte.
    »Seid nicht mißtrauisch, Kumpels«, kam es wieder aus dem Lautsprecher,

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