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Felicity Gallant und Das Auge des Sturms (German Edition)

Felicity Gallant und Das Auge des Sturms (German Edition)

Titel: Felicity Gallant und Das Auge des Sturms (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melanie Welsh
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gefreut, mein Schätzchen?«, fragte die Großmutter unnatürlich laut und deutlich: Offenbar wollte sie, dass ihre Worte im Erdgeschoss zu hören waren.
    Felicity sah sie an. Die Alte bot einen schreckenerregenden Anblick: Ihre Haut war dunkel wie altes Holz, ihr Gesicht so eingefallen, dass es kaum wiederzuerkennen war – es gab keine Augenbrauen, keine Wangen mehr, nur einen von Haut überzogenen Schädel, von dem vereinzelte dürre Haarsträhnen herunterhingen.
    Um nicht in Panik zu verfallen, konzentrierte Felicity all ihre Aufmerksamkeit auf die Brosche der Großmutter. Darauf war in Emaille das Bild einer dunkelhaarigen Frau vor einem Sternenhimmel zu sehen, umgeben von einem Kranz kleiner, in Gold gefasster Perlen. Mit verzweifelter Anstrengung starrte Felicity auf das Schmuckstück, ein handfestes, wirkliches Ding, an das ihr Verstand sich klammern konnte. Die kalte Angst rann immer noch durch ihre Adern. Das kann nicht sein.
    »Du behandelst mich wie Luft«, sagte die Großmutter. »Ich finde dein Benehmen erschreckend respektlos, Felicity.«
    Plötzlich hörte Felicity Schritte auf der Treppe. Sie konnte den Kopf nicht drehen, aber es gelang ihr immerhin mit äußerster Anstrengung, die Augen nach rechts zu bewegen, und sie sah ihren Vater heraufkommen. Eine Welle der Erleichterung ging über sie hinweg. Jetzt würde endlich jemand die Großmutter so sehen, wie sie wirklich war.
    Der Vater blieb vor ihr stehen. Sie sah ihn flehend an, immer noch unfähig zu sprechen, aber er reagierte gar nicht, sondern betrachtete sie nur, als wäre sie irgendein sonderbarer Gegenstand. Er tätschelte ihre Wange, dann musterte er verwundert seine Hand.
    »Das ist ziemlich ungezogen von dir, das siehst du doch ein, oder?«, fuhr die Großmutter fort.
    Felicity nahm all ihren Willen zusammen und schaffte es tatsächlich, etwas zu sagen. »Ja, Großmutter«, antwortete sie höflich, und in diesem Augenblick merkte sie, wie die geheimnisvolle Kraft sie losließ und wie sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte.
    Die Großmutter warf ihr einen abschätzigen Blick zu, dann beugte sie sich vor, bis ihr Gesicht fast das des Mädchens berührte. Wilde Wut verzerrte ihre Züge, ein geradezu mörderischer Hass. »Bald …«, flüsterte sie, als gäbe sie sich selbst ein Versprechen.
    Felicitys Vater ging weiter, verschwand in seinem Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Draußen rüttelte der Wind an den Fensterläden.
    Am Morgen des zweiten Weihnachtsfeiertags trat Felicity aus dem Haus. Auf dem Weg durch den Vorgarten wagte sie kaum zu atmen, aus Angst, dass sie jeden Moment zurückgerufen werden könnte. Als sie die Straße erreicht hatte, begann sie zu rennen, flitzte davon, so schnell ihre Beine sie trugen: nur weg von diesem Ort, der sich von ihrem gemütlichen, wenn auch ein bisschen langweiligen Zuhause in etwas Bedrückendes und Bedrohliches verwandelt hatte.
    »Schöne Weihnachten«, sagte Henry fröhlich. Er trug eine neue Mütze und einen flauschigen Schal, die ihm seine Mutter geschenkt hatte.
    Felicity antwortete nicht.
    Henry verzog das Gesicht. »War es wirklich so schlimm, wie du erwartet hattest?«
    »Sogar noch schlimmer.«
    »Willst du es mir nicht erzählen?«
    Felicity schüttelte den Kopf. »Du würdest es sowieso nicht glauben«, sagte sie voller Bitterkeit.
    Henry betrachtete sie nachdenklich. Es musste wirklich ganz schön übel gewesen sein.
    Beim Gedanken daran, dass die Schule erst in zwei Wochen wieder anfing, wurde Felicity ganz schlecht. Sie wollte diese Zeit auf keinen Fall zu Hause verbringen, aber sie konnte Mrs Twogood auch nicht zumuten, zusätzlich zu ihren eigenen Kindern noch ein fremdes als Dauergast im Haus zu haben.
    »Sechs Brüder und dann auch noch mein Vater!« Henry verdrehte die Augen. »Wenn mich die einen ausnahmsweise mal nicht piesacken, zieht mir der andere die Löffel lang.«
    Es war bitter kalt, vom Meer her wehte ein schneidender Wind, aber Felicity wollte lieber frieren als nach Hause gehen. Gegen Mittag musste sie sich allerdings eingestehen, dass ihre Zehen ganz taub geworden waren und ihre Wangen sich anfühlten, als würden sie mit Nadeln gestochen. Selbst Henry, der normalerweise nicht empfindlich war, wirkte zunehmend mutlos, als sie da zusammen in einem Bretterverschlag am Strand saßen. Die Kälte der eisernen Bank drang völlig ungehindert durch den Stoff der Kleidung.
    Mindestens fünf Minuten lang starrten sie stumm hinaus auf die grauen Wellen der See.

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