Felicity Gallant und Das Auge des Sturms (German Edition)
seiner Mannschaft, die für ihn fast so etwas wie eine Familie war, beim Feiern zu.
Auf der Fleischplatte türmten sich gebratene Gans und Ente, Rindfleisch, Schweinebraten und mit Kastanien und Salbei gefüllte Fasanen, im Kreis darum herum lagen Rebhühner. Es gab gebackene Feigen und Kompott, in großen Schüsseln dampfte Gemüse (das die meisten der Männer nicht anrührten) neben gerösteten, frittierten und pürierten Kartoffeln. Das Essen und Trinken sollte den ganzen Tag andauern.
Die Leute hatten gerade erst damit begonnen, die reichlichen Vorräte an Portwein und Rum zu vertilgen, aber alle waren schon in ausgelassener Stimmung und es wurden Trinksprüche ausgebracht.
»Auf die Herrin!«, rief einer durchs Getöse. Die Männer, die Instrumente spielen konnten, machten Musik. Abgerissene Fetzen von Liedern drangen an Abednegos Ohr:
»Sie wird dich mit Gold überhäufen, mit Edelsteinen und Perlen, aber du wirst es mit deiner Seele bezahlen …«
Seine Gedanken schweiften ab in die Vergangenheit, zu den glücklichen Momenten seiner Kindheit. Er erinnerte sich an jenes Weihnachtsfest, an dem seine ältere Schwester ihre geliebte Holzpuppe bekommen hatte – das abgewetzte, in alte Stofffetzen gehüllte Figürchen, das er jetzt immer in seiner Tasche bei sich trug.
Sein Onkel hatte damals schon am Morgen zu trinken angefangen. Er saß mit ein paar Kumpanen aus der Nachbarschaft und einem Fässchen Wein draußen auf der Straße, spielte Karten, redete Stuss und stritt mit den leichten Mädchen aus dem Viertel.
Abednego hatte seine Schwester Abigail über alles geliebt. Nach dem Tod ihrer Eltern war sie Mutter und Vater für ihn gewesen. Wenn sein Magen knurrte, hatte sie ihm jedes Mal von ihrer eigenen knappen Portion etwas abgegeben. Immer hatte sie sich schützend vor ihn gestellt, wenn ihr Onkel ihn schlagen wollte.
Ein ganzes Jahr lang hatte Abednego gespart, um ihr diese Puppe zu kaufen, lauter winzig kleine Beträge, bis er genug beisammenhatte. Und dann hatte sein Onkel verlangt, dass er ihm das Geld gab, weil er es vertrinken wollte. Aber Abednego hatte sich geweigert.
Der Onkel verabreichte ihm eine solche Tracht Prügel, dass er eine Woche lang nicht sitzen konnte vor Schmerzen. Aber der Junge verriet ihm nicht, wo er das Geld versteckt hatte. Und als der Onkel es müde war, Abednego zu schlagen und wüst zu beschimpfen, schlich sich dieser aus dem Haus und zu der Marktbude der Puppenverkäuferin und suchte sorgfältig die hübscheste Puppe für seine Schwester aus.
Abigail war entzückt von ihrem neuen Spielzeug. Ihre Freundinnen beneideten sie. Sie strahlte übers ganze Gesicht, wenn sie das Holzpüppchen in der Hand hielt … Abednego sah sie immer noch vor sich. Dieses Glück war all die Schmerzen wert, die er dafür erduldet hatte.
Unter der Tischplatte zog er die Puppe hervor und strich mit dem Finger über den fadenscheinigen Stoff des Kleids, der sich weich wie Samt anfühlte. Sollte er sein Leben weiter als Heuchler und Lügner fristen … oder es ehrenhaft verlieren? Das war die Frage, die ihm ständig im Kopf herumging seit jenem schicksalhaften Erlebnis in der Bibliothek von Wellow.
Für Felicity war Weihnachten einfach nur ein weiterer Tag voller Sticheleien und versteckter Bosheiten, voller mühsamer Gespräche – ein Tag, beherrscht von jener gedrückten Stimmung, die über dem Haus hing wie eine dunkle Wolke. Aber im Augenblick hatte sie immerhin eine Weile Ruhe vor der Großmutter: Sie war in ihrem Zimmer im ersten Stock und bürstete ihr Haar.
Als sie wieder hinuntergehen wollte, stand auf dem Treppenabsatz plötzlich die alte Frau vor ihr. Felicity fuhr erschrocken zusammen. Im nächsten Moment wurde sie gepackt, hochgerissen und brutal an die Wand gedrückt. Sie war so schockiert, dass sie gar nicht recht begriff, was da mit ihr passierte – nur irgendwo in ihrem Kopf blitzte die Verwunderung darüber auf, dass eine so alte Person derart stark war. Dann blickte sie an sich hinunter und erkannte, dass die Großmutter sie gar nicht berührte – es war eine unsichtbare, körperlose Gewalt, die Felicity festhielt. Dieselbe Kraft schien auch auf den Stoff ihres Kleids und ihre Haare zu drücken; es fühlte sich an, als würde ein mächtiger Sturm sie gegen die Wand pressen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt vor Angst, sie bekam keinen Ton heraus. Das kann nicht sein, das kann nicht sein, sagte sie sich immer wieder in Gedanken.
»Hast du dich über deine Geschenke
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