Felidae 06 - Schandtat-neu-ok-22.02.12
Gesichtsausdruck zu betrachten. Witzige Sprüche über die
Jugend abzusondern war eine Sache, eine völlig andere aber war es, wenn man mit
ihrem erbarmungslosen Scharfsinn konfrontiert wurde und sich eingestehen mußte,
daß in Wahrheit weniger das junge denn das alte Eisen zu Witzen taugte. Deshalb
wechselte ich wie alle Ertappten auf der Stelle die Strategie: Ich versuchte
mich durchzumogeln.
»Da kann ich auch nichts mehr machen«, erwiderte ich. »Ich
habe nur diese eine Erinnerung. Und damit basta!«
»Hey, sei nicht gleich eingeschnappt, Paps«, sagte Junior
im therapeutischen Ton, als hätte er es mit einem widerspenstigen Patienten zu
tun. »Also, wie war das genau, als du die Senke hochgekommen bist? Du hast zum
ersten Mal dieses verlassene Areal unter dem Sternenhimmel gesehen. Wie hat
sich Eloi dabei benommen?«
Wohl oder übel ging ich tief in mich und beschwor die
vergilbten Bilder mit solcher Akkuratesse herauf, wie ich es vorher noch nie
versucht hatte. »Wenn ich es mir jetzt recht überlege, nicht besonders
aufgeregt. Aber er war ohnehin ein ziemlich cooler Typ. Außerdem ernährte er
sich ja praktisch von diesem Minzenzeug, so daß er nicht anders konnte, als
cool zu sein. Auch der rote alte Zausel, der ganz vorne stand und bei der
Überbringung der Hiobsbotschaft noch außer sich gewesen war, wurde nicht gerade
von Panikanfällen geschüttelt. Die anderen auch nicht. Ja, eigentlich war es
eine einigermaßen sachliche Veranstaltung.«
»Und dann habt ihr die Leiche gesehen.«
»Ja. Sie ... sie lag da, alle viere von sich gestreckt.
Nein, nun kommt es mir so vor, als sei ihr Kopf doch nicht vom Hals abgetrennt
gewesen. Sie sah eigentlich auch nicht besonders zermanscht aus, eher ... nun
ja, überhaupt nicht zermanscht.« Diese verdammte Minze! Sie vergröberte die
Eindrücke, lieferte Bilder, die der Erwartungshaltung entsprachen, und würzte
alles mit einer starken Prise Dramatik. Ich fuhr fort: »Eigentlich sah der
Artgenosse im Gras wie ein gewöhnlicher Toter aus. Ich habe kaum Blut
ringsherum bemerkt. Vielleicht habe ich beim ersten Anlauf etwas übertrieben
... basta!«
Junior war während des revidierten Berichts immer ruhiger
geworden. Er hatte nun allen Grund, an der gesamten Geschichte zu zweifeln, was
ich aber nicht glaubte.
Eher war er als guter Sohn bestrebt, die wertvollen
Erinnerungen des Alten zurechtzurücken, um sich die Anfänge seines Lebens in
ihrer ganzen Wahrhaftigkeit und Schärfe zu vergegenwärtigen. Ich dagegen hatte
mir all die Jahre eingebildet, meine Biographie wie in Stein gemeißelt vor mir
zu sehen. Was für ein Unfug! Die Erinnerung ist ein Chamäleon, das die Farbe je
nach Stimmung und Gutdünken des sich Erinnernden ändert. Das weiß doch jedes
Kind. Vor allem wußte es mein schlaues Kind.
»Eine Frage, Paps«, sagte Junior nach einer Weile. »Weißt
du noch, wo sich dieser Brunnen befindet?«
»Was hast du vor? Wenn du deinem detektivischen Vater
nacheifern möchtest, kommst du leider ein bißchen zu spät. Sechzehn Jahre sind
seit dieser bitteren Zeit vergangen. Oder vielleicht sogar siebzehn?«
»Trotzdem. Kannst du dich noch erinnern, wo dieser blöde
Brunnen ungefähr liegt?«
»Klar. Normalerweise bist du in dreißig Minuten dort. Wenn
du allerdings jetzt durch den Schneemantel stakst, dauert es bestimmt eine
Stunde. Aber was willst du nach so langer Zeit dort noch finden? Den jungen
Geist von Francis? Falls die ganze Brunnenanlage überhaupt noch existiert.«
»Ich weiß es ehrlich gesagt selbst nicht. Aber irgend
etwas an deiner Erzählung kommt mir komisch vor. Wie ein Gemälde, in dem eine
wichtige Botschaft versteckt ist, die man erst nach mehrmaligem Hinsehen
wahrnimmt.«
»Wieso denn das? Du hast sie ja nicht einmal zu Ende
gehört. Wenn du die ganze Geschichte kennst, dann wirst du verstehen, daß du am
falschen Ort nach den Spuren des Bösen suchst. Und ich kann dir versichern,
nach all den Jahren existieren dort mit absoluter Sicherheit überhaupt keine
Spuren von gar nichts mehr!«
»Vielleicht hast du recht«, sagte er nachdenklich.
»Zunächst solltest du diesen Abschnitt deiner Erinnerungen zu Ende bringen.
Erzähl doch weiter.«
»Wie gütig«, erwiderte ich. »Falls du darauf spekulierst,
daß ich gleich zusammenbreche und du dann alles erben wirst, muß ich dich
leider enttäuschen: Die Häuserzeilen in Notting Hill und Manhattan und meine
dreißig Prozent Anteil an Google habe ich schon dem World Wide Fund For
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