Felidae 8 - Göttergleich: Ein Felidae-Roman
Züchterei nicht. Da geht es um Perfektion, um das unbedingte Einhalten von Merkmalen und Maßen. Sonst fällt man aus dem Raster. Und was glaubst du, was man mit den aus dem Raster Gefallenen, mit der Ausschussware so anstellt? Kannst du dir das echt nicht denken? Immerhin geht es ja dann darum, überflüssige Mäuler zu stopfen, die keiner dem Züchter abnehmen will. Und bei so einer Großzucht kann die Ausschussware schnell mal ein Viertel des Bestandes ausmachen. Klar, man tötet sie nicht direkt, da achtet die staatliche Veterinärkontrolle darauf. Aber es gibt andere Wege, um unliebsame Kostgänger loszuwerden: aushungern, mit einem
ekelhaften Virus infizieren, sie mit ihresgleichen in einen so engen Käfig sperren, dass sie sich vor lauter Frust und Wahnsinn früher oder später gegenseitig erledigen. Bevor es dazu kommen konnte, bin ich abgehauen. Und nach Tagen des Herumirrens, als ich am Ende meiner Kräfte und nur eine Pfotenlänge vom Jenseits entfernt war, hatte ich eine Erscheinung: Ein U strahlte aus der verzweifelten Nacht. Es leuchtete neonfarben blau und wies in den Untergrund.«
Gewiss, ich war erschüttert, noch mehr aber beschämt, weil ich sie vorhin fälschlicherweise für ziemlich neurotisch und im wahrsten Sinne des Wortes für ein Rasseweib gehalten hatte. Trotzdem unterdrückte ich meine Aufgewühltheit, weil ich etwas Wichtiges von ihr erfahren wollte. »Das ist wirklich eine tragische Lebensbeichte, Sybilla. Aber kannst du mir verraten, von was du hier eigentlich lebst?«
Sie schüttelte ihre Betrübtheit so unvermittelt ab wie eine Fluse von ihrem Fell, wischte sich mit einer Pfote die Tränen aus den Augen und wandte sich wieder zu mir. »Ach, hier lebt es sich eigentlich ausgezeichnet, Francis. Allerdings nennt sich der Mülleimer mein Napf. Davon existieren im ganzen U-Bahn-Netz über tausend. Das hört sich vielleicht unappetitlich an, ist es aber gar nicht, weil die halb verzehrten und dann weggeschmissenen Snacks echt noch völlig frisch sind. Sie erhalten hier erst gar keine Chance zum Verschimmeln, weil die Tonnen zweimal täglich geleert werden. Stichwort: Döner! Aber selbst das bisschen Gras, das unsereins für die Verdauung braucht, ist in dem einen oder anderen entsorgten Blumenstrauß eines enttäuschten Liebhabers zu finden.«
»Toll«, sagte ich. »Glaubst du, die U-Bahn-Station verträgt zwei von unserer Sorte? Ich meine, du hast mir mit dieser Döner-Sache richtig Appetit gemacht. Du nimmst das nördliche Mülltonnenreich und ich das südliche oder umgekehrt. Wir könnten auch Allianzen schließen, wenn jemand mal gerade halb verdaute Leber erbrochen hat. Aber mal im Ernst, wie ist es im Fall einer Krankheit? Schlafen denn nachts so viele Tierärzte ihren Rausch auf den Bänken aus, deren Gesichter du nur lange genug abzulecken brauchst, bis sie endlich aufwachen und dir eine Antibiotikum-Spritze verpassen?«
Sie lächelte verschmitzt, was zwar bei ihrem beigen Maskengesicht ungeheuer süß aussah, aber gleichzeitig ziemlich gespenstisch wirkte, weil sie bereits derart abgemagert war, dass ein wenig die Schädelknochen durchschienen. »Man muss halt alles dransetzen, gesund zu bleiben«, sagte sie mit einem teils lustigen, teils galligen Unterton. »Aber glaub mir, das ist hier nicht das größte Problem. Das Hauptproblem sind die vielen Überwachungskameras.«
»You-Tube-Opfer?«
»Nein, die Sicherheitsleute vor den Bildschirmen. Sie sehen es nicht gern, wenn unsereins auf den Bahnsteigen herumgeistert. Deshalb schicken sie immer sofort einen Trupp los, um mich einzukassieren. So muss ich immer in Bewegung bleiben. Und das ist der eigentliche Grund, warum ich andauernd in der Bahn herumsitze.«
Eine gute Seite hatte diese Begegnung allemal: Vor lauter Anteilnahme an Sybillas Schicksal hatte ich ganz meine eigenen Sorgen vergessen. Na ja, so halb. Denn immer noch stand die Frage im Raum, ob ich bei der nächsten Station
aussteigen und die erstbeste Bahn nach Hause nehmen sollte. Die euphorische Aufbruchstimmung von vorhin hatte sich nach dem Verlust Blaubarts, erst recht nach Sybillas trübsinniger Lebensbeichte in Luft aufgelöst. So ganz auf mich gestellt und ohne jegliche Rückendeckung, fühlte ich mich außerstande, im Ägyptischen Museum dem Zeit-Rätsel auf die Spur zu kommen. Was die weitere Vorgehensweise anbelangte, war ich also immer noch unentschlossen. Trotzdem hätte ich es mir kaum verziehen, wenn ich der armseligen Gestalt vor mir nicht ein
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