Felipolis - Ein Felidae-Roman
einem Dach und ohne Zeugen. Höchstwahrscheinlich handelte es sich um Marc Forsters Schatten, der da hinter dem Schornstein hervorlugte, und von ihm hatte ich meine Lektion mehr als zur Genüge gelernt.
Ich schlich also auf Pfotenspitzen zurück. Vielleicht war es eine Laune des Sonnenlichts oder eine Wahrnehmungsstörung meinerseits, erzeugt durch nervliche Überhitzung, oder tatsächlich das, was meine bis zum Äußersten geweiteten Augen wahrnahmen: Jedenfalls veränderte sich der Schatten. Er wurde größer und, ja, irgendwie bedrohlicher - und trat schließlich ein wenig vor. Eine Identifikation des Schattenwerfers anhand der Silhouette auf den Ziegeln war weiterhin unmöglich. Doch auch ohne hellseherische Fähigkeiten zu besitzen, konnte die Bewegung nur eines bedeuten: Der Schattenwerfer hatte mich als unliebsamen Zeugen ausgemacht und würde jeden Moment hinter dem Schornstein hervorpreschen und mich auf seine Art davon überzeugen, mich künftig nicht mehr in Dinge einzumischen, die mich nichts angingen.
Die schmerzhafte Erfahrung des Gegen-die-Wand-geklatscht-Werdens hatte sich quasi in meine Nervenzellen eingeschrieben, weshalb mein Körper automatisch seine Überlebenstaktik änderte, ohne mich erst groß um Erlaubnis zu
fragen. Ich drehte mich auf dem Absatz um und rannte in die entgegengesetzte Richtung davon, als wäre das gesamte Dach eine einzige, glühende Herdplatte. Wie befürchtet, ließ daraufhin der Häscher hinter dem Schornstein jede Vorsicht fahren und setzte mir sofort nach. Ich traute mich nicht, den Kopf nach hinten zu reißen und dadurch mein Tempo zu verlangsamen. Deshalb wusste ich immer noch nicht, wer er war. Ich hörte nur das Getrappel seiner Füße (?) und registrierte, dass dieses Getrappel an Lautstärke und Taktzahl ständig zunahm. Immer wieder schlug ich Haken, übersprang kastenartige, schneeweiß angestrichene Kühleinheiten der Klimaanlage und huschte unter undefinierbaren Edelstahlröhren hindurch. Doch mein Freund blieb mir stets auf den Fersen. Die Lücken zwischen all den verwirrenden Schornsteinen und Dachaufbauten taten sich vor mir auf wie Schluchten eines Canyons. Bald wusste ich nicht mehr, an welcher Stelle des Daches ich mich überhaupt befand. Und vor allem wusste ich nicht, wie es weitergehen sollte.
Schließlich schlug ich wieder einen Haken und landete in einem zirka eineinhalb Meter breiten, gefliesten Laufweg mit niedrigen Mauern auf beiden Seiten, zu dem man von unten über eine große Falltür gelangte. Die Tür war offenkundig als Zugang für Handwerker auf das Dach gedacht. Die Strecke barg keinerlei Gefahr für mich, da sie keine Sackgasse war. Nach ihrer Durchquerung standen mir alle Fluchtalternativen zur Verfügung. Nein, die wirkliche Gefahr drohte von ganz woanders her. Hätte mich jemand noch vor einer Sekunde auf die Möglichkeit dieser Gefahr aufmerksam gemacht, hätte ich ihm schmunzelnd eine Zwangsjacke spendiert. Wie oft wird im Alltag das Wort unwahrscheinlich wohl
benutzt? Bestimmt sehr oft. Nun aber musste ich am eigenen Leibe erfahren, dass der eigentliche Bedeutungskern dieses Wortes wahrscheinlich ist!
Der makellos blaue Himmel am Ende des Ganges wirkte wie eine CinemaScope-Aufnahme aus einem Heile-Welt-Film. Und das Ding in der Mitte dieses Bildes hätte auch mühelos in eine heile Welt gepasst - wenn es nicht geradewegs auf mich zurasen würde. Ich traute meinen Augen nicht. Als hätte ich keine anderen Probleme, schwebte auch noch Büttels längst verabschiedeter Zeppelin mit Höchstgeschwindigkeit direkt auf mich zu!
Das drollige Luftschiff war nach unserem Ausstieg eben doch nicht in die Ferne weitergesegelt, wie der fahnenflüchtige Pilot angenommen hatte. Im Gegenteil, es hatte in der Zwischenzeit ein Eigenleben entwickelt, führerlos eine gemächliche Schleife ums Gebäude gedreht und vermittels geheimnisvoller Gesetze von Wind und Luftdruck nun eine Spontan-, besser gesagt Bruchlandung beschlossen. Der Bug neigte sich schon derart bedrohlich abwärts, dass es fast den Eindruck hatte, als stünde die ganze Gurke auf dem Kopf. Und dann das Tempo, mit welchem das verfluchte Teil auf mich zusteuerte! Als Passagier an Bord hatte ich mich von der natürlichen optischen Täuschung eines gemütlichen, schier zeitlupenhaften Schwebens blenden lassen, ohne zu merken, was für einen Affenzahn der fliegende Untersatz in Wahrheit draufhatte. Nur noch wenige Augenblicke trennten mich von Büttels Hinterlassenschaft, die in
Weitere Kostenlose Bücher