Felipolis - Ein Felidae-Roman
holen ließ, sah sie wie ein Häufchen Elend aus. Ganz in ein schwarzes Rüschenkleid gehüllt, machte sie den Eindruck, als wohne sie ihrer eigenen Beerdigung bei. Irgendwie wirkte sie wie geschrumpft. Sowohl ihr wächsern glänzendes, eingefallenes Gesicht als auch ihr zierlicher Körper besaßen etwas Vogelhaftes.
Ganz anders als ihre anwesenden Geschlechtsgenossinnen trug sie ihr hüftlanges Haar offen, was durch den Umstand, dass es schneeweiß war, die Extravaganz noch betonte. Dennoch war sie ganz Trauer und Verlorenheit.
»Ich habe mein ganzes Leben an einem Ort verbracht«, sagte die Frau mit einem Stöhnen. »Im Haus meines Vaters in New York. Dort bin ich aufgewachsen, dort habe ich geheiratet, Kinder und Enkelkinder bekommen und viele schöne Jahre erlebt. Und jetzt eine neue Heimat? Dazu fehlt mir die Kraft.«
»Die werden Sie leider aufbringen müssen, Mrs Archer«, entgegnete Forster kühl. Er ging den Tisch entlang zu der Frau und beugte sich mit einfühlsamer Miene zu ihr, ganz wie ein geduldiger Lehrer, der einer dummen Schülerin den Lösungsweg zu einem mathematischen Problem aufzeigt. Obwohl das hart geschnittene Gesicht vor lauter Güte überzulaufen schien, sah man deutlich Forsters Schläfenvenen pulsieren. Das strahlende Blau in seinen Augen verfinsterte sich von Sekunde zu Sekunde mehr.
»Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen die Shopping-Touren durch Bloomingdale und die Spaziergänge mit Ihren Enkeln durch den Central Park wenig Zeit lassen, sich über die Weltlage zu informieren. Doch die Welt hat sich radikal gewandelt, Mrs Archer. Wussten Sie, dass Nationen und Staaten heute fast vollständig an Bedeutung verloren haben? Ja, es klingt wie der Gipfel der Ironie, wo wir doch hier einen neuen Staat gründen wollen. Aber in Wahrheit gibt es nur noch Interessen - Geldinteressen. Glauben Sie mir, man mag keine Reichen mehr, schon gar keine Superreichen. Die heutige Welt hasst die Reichen, mehr als Pest und Cholera zusammen.
Über kurz oder lang wird man sie enteignen. Ob das über eine rigide Steuergesetzgebung geschehen wird oder über einen Aufstand des Fußvolks oder über einen Staatsbankrott, spielt dabei keine Rolle. Sie können jedenfalls Ihren Rolls-Royce darauf verwetten, dass man Ihnen den schönen Wagen schon bald wegnehmen wird. Wie auch alles andere.«
Die alte Dame schaute so versteinert drein, als hätte sie kein Wort von dem alarmistischen Gelaber kapiert.
Forster drehte sich mit dramatischer Geste zu der übrigen Zuhörerschaft. »Es war schon immer ein naiver Wunschtraum, dass Leute mit viel Geld an einem Ort mit Leuten mit wenig bis gar keinem Geld zusammenleben könnten. Denn die Leute mit viel Geld sind stets in der Minderheit. Und im Gegensatz zu früher erfahren die Mittellosen heute über die Medien haargenau, wie es sich die reiche Minderheit gut gehen lässt. Das muss notgedrungen Spannungen erzeugen.« Er legte eine dramatische Kunstpause ein und nickte mehrmals, als gäbe er sich selbst recht. »Diese Entwicklung hatte Adelheid schon vor Jahren vorausgesehen und deshalb den Club der Milliardäre gegründet. Sie wusste, dass die Gründung eines Staates der Wohlhabenden mit uneingeschränkter Souveränität allein durch die Schlüsselrolle der Navigationstechnologie zu erreichen ist. Und nur sie konnte solch ein gewaltiges Projekt stemmen. Es gab natürlich Probleme. Der Widerstand ihrer Söhne, zum Beispiel, die Vermögen derartigen Ausmaßes eher als eine Last denn als einen Segen betrachteten. Und wäre es damals nicht zu dem tragischen Unfall gekommen, bei dem die beiden ihr Leben verloren, dann wäre das Projekt Felipolis schon längst begraben worden.«
Forster massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel, als verursache ihm das Einbläuen des Unterrichtsstoffs in die lernresistenten Schüler Kopfschmerzen. Dann kehrte er zu seinem Podest zurück und legte eine Hand auf einen der Türme aus den übereinandergestapelten, kobaltblauen Heftchen. Von meiner Warte im Kamin aus konnte ich nicht genau erkennen, was es mit ihnen auf sich hatte. Doch hätte man mir unter Androhung von Folter eine Vermutung abgezwungen, dann hätte ich vom Format her auf Pässe oder Ausweise getippt.
»Wie dem auch sei, Adelheid war stets der Überzeugung gewesen, dass zweierlei Menschenschlag existiert. Jene, die qua Geburt, sozusagen durch ein kostbares Zusatzgen, zu Höherem berufen sind, und solche, die den Letzteren dienen sollten. Wie wir alle wissen, sind solche
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