Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick
durchlebte seine Phase des Trockenwerdens und der Einschlafgeschichten und eine von Missbrauch geprägte Beziehung mit der Familienkatze und Gott weiß was sonst noch alles. Es war jedoch nicht chronologisch geordnet: Ich sah ihn in einem Kino sitzen und bei Vom Winde verweht weinen; zu Hause, wie er kochendes Wasser in ein Nudelfertiggericht schüttete; im Archiv, wo er ein altes in Leder gebundenes Buch sorgfältig in Luftpolsterfolie einwickelte. Es war ein Kirchenregister für den Zeitraum März bis Juni 1840. Während er arbeitete, sah er ständig über die Schulter, um sicherzugehen, dass ihn niemand beobachtete. Er schützte die Ecken mit Winkeln aus Pappe, die er mühevoll ausgeschnitten und zusammengeklebt hatte. Er wusste, was er tat, hatte es tausendmal zuvor getan, stets mit dem gleichen warmen Kribbeln im Unterleib. Es war wie die Annäherung an einen Orgasmus, der nie stattfand – und dieses Gefühl, diese ständig zunehmende Intensität, war der Fixpunkt seines Lebens.
»Ich glaube, er ist tot.«
»Red keinen Unsinn! Er ist nur ohnmächtig.«
»Ja, aber habt ihr nicht dieses Knacken gehört, als sein Kopf auf den Boden aufschlug?«
»Das war nicht sein Kopf. Es hatte einen metallischen Klang. Es muss etwas in seiner Tasche gewesen sein.«
»Die Tin Whistle. Sieh mal. Sie ist total verbogen.«
Oh nein! Das durfte nicht sein. Ein kalter Hauch von Trauer und Zerknirschung ließ mich aus meiner Betäubung aufwachen. Meine Tin Whistle. Mein Schwert und mein Schild in allen möglichen und unmöglichen Lebenslagen. Sie war wie Millionen andere, und sie war trotzdem absolut einzigartig, und alles, was davon jetzt noch existierte, war der scharfe Schmerz, wo sich das abgebrochene Ende in Höhe der dritten Rippe in meinen Brustkorb bohrte.
Ich öffnete die Augen halb und starrte in eine Ansammlung erschreckter, misstrauischer und zorniger Gesichter. Cheryls Gesicht war mitten unter ihnen, und obgleich sie erleichtert war, dass ich wieder zu Bewusstsein gekommen war, konnte ich an den harten Linien ihres Mundes erkennen, dass ihre Mitgliedschaft im Felix-Castor-Fanclub ein für alle Mal erloschen war. Das waren zwei schwere Schläge innerhalb von zwanzig Sekunden.
Jemand drückte mir einen silbernen Flachmann in die Hand. Völlig benebelt, frierend und mich seltsam körperlos fühlend, als betrachtete ich mich von Weitem wie einen Fremden, trank ich einen Schluck, ohne zu kosten, was es war, und bekam einen heftigen Hustenanfall von einem scharfen, aber hervorragenden Bourbon. Einiges davon rann auf meine Kleidung, aber der Rest entfaltete seine Wirkung. Ich wandte den Kopf, um zu sehen, bei wem ich mich bedanken musste. Rich betrachtete mich mit einem wiederholten Augenzwinkern, das Anteilnahme und innere Verbundenheit signalisierte. Ich gab ihm den Flachmann mit einem Kopfnicken zurück und dachte an seinen geheimen Vorrat Lucozade im kleinen Campingkühlschrank, der im Tresorraum unten im Bonnington stand. Nun, »Allzeit bereit« war das Marschlied der Pfadfinder, und einige Dinge blieben einem für immer im Gedächtnis haften. Aber das war nicht der Ausdruck, den er benutzt hatte. Er hatte so ähnlich geklungen, nur anders.
»Im Notfall …«
Dominostein um Dominostein kippte, und alles fiel in ein Muster, das die ganze Zeit existiert hatte, jedoch unsichtbar gewesen war. Ich richtete mich auf und hatte ein seltsames Gefühl von Schwerelosigkeit. Ich kam mir vor wie ein geworfener Ball auf dem Scheitelpunkt seiner Flugkurve, wo er nicht mehr aufstieg und noch nicht zu fallen begonnen hatte – befreit von der Schwerkraft und der Notwendigkeit, eine Wahl zu treffen. Cheryl half mir auf, und unsere Blicke trafen sich, heftig anklagend auf ihrer Seite, Gott allein mochte wissen was auf meiner. Vom Geist war nichts mehr zu sehen. Wahrscheinlich war der Ruf, den ich an ihn ausgesandt hatte, abgerissen, als ich das Bewusstsein verloren hatte, und es gab nichts, was ihn in diesem verwirrenden, offenen und überhellen Raum hätte verweilen lassen sollen.
»Es tut mir leid«, sagte ich zu Cheryl und beugte mich zu ihr, damit niemand mithören konnte.
Sie kam mir nicht entgegen. »Ich wette, das tut es dir hinterher immer. Ich wette sogar, dass es manchmal funktioniert.«
»Ich hoffe, es funktioniert bei Sylvie«, flüsterte ich. »Bei ihr muss ich mich am meisten entschuldigen.«
Andere Stimmen drängten sich jetzt an mein Ohr, und andere Hände griffen nach mir. Jeffrey Peele sagte: »Ich kann nicht,
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