Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick
rotes Lichtchen auf Grün umsprang. Sie hielt die Tür für mich auf, und ich trat hindurch in einen Flur, der eng und niedrig war. Sie schloss die Tür hinter uns wieder, drückte gegen den Türdämpfer, bis das Schloss einrastete, und schob sich dann wieder an mir vorbei – was ein wenig umständlich war –, um weiter vorauszugehen.
Zu beiden Seiten des Korridors befanden sich Türen, alle geschlossen. Schmale Glasscheiben mit eingegossenem Drahtgeflecht ließen mich in Räumlichkeiten blicken, die mit Aktenschränken oder deckenhohen Bücherregalen gefüllt waren. Einige Fenster waren mit schwarzem Bastelpapier beklebt, das sich vom Alter grau gefärbt hatte.
»Was hat eine leitende Archivarin zu tun?«, fragte ich, um ein kultiviertes Gespräch bemüht.
»Alles«, sagte Alice. »Ich bin hier für alles zuständig.«
»Wohingegen Mister Peele …?«
»Er ist für die politische Seite, für die Finanzierung und für Public Relations zuständig. Ich sorge für den ordnungsgemäßen Betrieb.« Sie war gereizt und schien mir übel zu nehmen, dass ich sie ausfragte. Aber wie ich schon sagte, das geschah bei mir automatisch. Man konnte nur aus der Rückschau entscheiden, ob Informationen wichtig oder nebensächlich waren.
Daher machte ich weiter. »Ist die Sammlung des Archivs wertvoll?«
Alice bedachte mich mit einem leicht strengen Blick, aber das war offensichtlich etwas, worüber sie lieber redete. »Das ist keine Frage, die sich schlüssig beantworten lässt«, erwiderte sie leicht herablassend, während die Schlüssel an ihrer Hüfte klirrten. »Wert bemisst sich danach, was der Markt hergibt. Verstehen Sie? Ein Gegenstand ist nur das wert, wofür man ihn verkaufen kann. Vieles von dem, was wir besitzen, ist im wahrsten Sinne nicht mit Geld zu bezahlen, weil es keinen Markt gibt, auf dem man es verkaufen kann. Andere Stücke haben überhaupt keinen Wert. Wir haben 120 Kilometer Regalfläche – und die sind zu achtzig Prozent voll. Die ältesten Dokumente, die wir besitzen, sind neunhundert Jahre alt und gelangen außer bei Ausstellungen niemals an die Öffentlichkeit. Aber der Großteil der Sammlung setzt sich aus Material zusammen, das eher gewöhnlich ist. Es ist nicht gerade das, wofür jemand ein Vermögen bezahlen würde. Wir sprechen von Frachtlisten alter Schiffe. Grundstücksurkunden und Protokolle über Firmenzusammenschlüsse. Von Briefen und Tagebüchern – massenweise –, aber die meisten nicht von berühmten Leuten und in vielen Fällen noch nicht einmal besonders gut erhalten. Wenn Sie wüssten, wonach sie suchen, könnten Sie hypothetisch gesehen genug stehlen, um ein angenehmes Leben zu führen. Aber dann hätten Sie große Probleme, die Stücke zu veräußern. Sie würden kein Auktionshaus finden, das sie annimmt, denn sie gehören uns und sind bekannt. Jedes Auktionshaus, jeder Händler, der auf seinen Ruf bedacht ist, würde die Herkunft überprüfen. Nur Schieber kaufen blind.«
Wir bogen um eine Ecke, während sie sprach, dann um eine weitere. Das Innere des Bauwerkes hatte einen ebenso verwirrenden und chaotischen Umbau erlebt wie mein Büro. Es schien, als umgingen wir ganze Räume oder tragende Wände, die man nicht hatte verschieben können, und nach der kühlen Schönheit der Eingangshalle hinterließen die Schäbigkeit und die Dürftigkeit einen trostlosen Eindruck im Auge des Betrachters. Wir gelangten schließlich zu einer weiteren Treppe, die wie ein armseliges Stiefkind derer erschien, die Alice vorher heruntergekommen war. Sie war aus Beton gegossen und mit Antistolperstreifen versehen, die man nur nachlässig auf die Treppenkanten geklebt hatte. Erneut blieb Alice zurück, um mir beim Hinaufgehen den Vortritt zu lassen.
»Haben Sie den Geist gesehen?«, fragte ich, während wir emporstiegen.
»Nein.« Ihr Ton war wachsam, kurz angebunden. »Das habe ich nicht.«
»Ich dachte, jeder …?«
Sie überholte mich wieder am Ende der Treppe und schüttelte mit Nachdruck den Kopf. »Jeder außer mir. Ich bin dem Anschein nach immer gerade woanders. Das ist wirklich seltsam.«
»Dann waren Sie also nicht anwesend, als er Ihren Kollegen angegriffen hat.«
»Ich sagte doch, ich habe ihn nicht gesehen.«
Offenbar war das alles, was ich von ihr zu hören bekommen würde. Nun gut! Die Entscheidung, wann ich nachhaken und wann besser aufgeben sollte, fiel mir meist ziemlich leicht. Eine weitere Biegung, und der Gang mündete in einen breiteren, der eher dem Geist des
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