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Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick

Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick

Titel: Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Carey
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rechte Hand ins Spiel. Während die linke weiterhin im Schwebezustand blieb, bewegte sich die rechte schnell und berührte erst ein Blatt Papier, dann ein anderes, tippte und stieß an Punkten in den Stapel, die vielversprechend aussahen.
    Es war keine exakte Wissenschaft. Ich war der Erscheinung zweimal begegnet, und sie hatte meinen Geist beide Male berührt und einen unvollständigen und verschwommenen Eindruck hinterlassen. Ich suchte in dieser Masse von Dokumenten nach etwas, das diesem Eindruck glich, sodass ich ihn ergänzen und schärfen konnte. Wenn ich einen emotionalen Einhakpunkt hatte, der ausreichend lebhaft und komplett war, konnte ich meine Flöte herausholen und den Job abschließen. Der Eindruck, denn ich in meinem Geist formte und festhielt, während ich spielte, war die Grundlage des Zaubertricks, den ich nutzte, und Musik war das Medium, das ihm Ausdruck verlieh.
    Nachdem ich etwa zehn oder fünfzehn Minuten damit zugebracht hatte, war ich mir mehr oder weniger sicher, dass sich nichts tat. Daher packte ich den Inhalt des ersten Kartons wieder ein und hievte den zweiten auf den Tisch. Abermals packte ich den Inhalt aus, breitete die alten Dokumente auf dem Tisch vor mir aus und begann sie zu lesen.
    So verstrich der Vormittag und ging in den Nachmittag über. In gleichmäßigem Tempo und mit sorgfältig neutral gehalten Emotionen, ohne mich hetzen oder enttäuschen zu lassen. Es war schon beschwerlich genug, auch ohne eine solche Spannung aufzubauen.
    Ich verlor jedes Zeitgefühl. Nicht wegen der endlosen Wiederholung, sondern weil die Eindrücke, die ich von den alten Papieren auffing, eine Art eigener hypnotischer Wirkung ausübten, so schwach sie auch war. Ganz mit diesem Palimpsest befasst fiel es mir schwer, mit meinem Bewusstsein an diesem frostigen Nachmittag im November, der mein Ausgangsort gewesen war, verankert zu bleiben. Er war noch da, und ich auch. Aber meine Wahrnehmung war gedämpft. Nach und nach hörte ich das Gurgeln in den Wasserleitungen nicht mehr, das Öffnen und Schließen von Türen in der Ferne. Ich war irgendwo anders, außerhalb der normalen Zeitströmung.
    Nur einmal dachte ich, ich hätte etwas. Das Bild einer weinenden Frau drang sehr deutlich zu mir durch, als ich ein bestimmtes Foto berührte. Sie war jung, und sie war verzweifelt – aber ihr Gesicht war unverletzt, ihr Haar war aschblond, und vor allem war sie nicht dort. Es war nur ein Nachbild ohne den Sinneseindruck einer Präsenz dahinter. Das Foto zeigte eine Straße, vermutlich irgendwo im Ostblock. Ein Wohnviertel in einem Städtchen, trist, anonym und mehr oder weniger zeitlos.
    Durch das Bemühen, einen klaren Gedanken zu formen, halb aus meiner Trance gerissen, wurde mir plötzlich der Klang Dutzender schriller Stimmen bewusst, die durcheinanderredeten, und die Schwingungen unter meinen Füßen von einem Tier mit an die sechzig kurzen, aber brauchbaren Beinen. Ich riss mich zusammen – riss mich aus dem psychischen Netz, das ich geflochten hatte, zurück in mein eigenes Fleisch – und rieb mir die Augen. Als der Lärm lauter wurde, ging ich zur Tür und schaute hinaus. Auf dem Gang wimmelte es von Kindern, alle in blauen Blazern mit roten Abzeichen auf den Taschen und alle mit zerknüllten Papierbögen in den Händen. Sie schienen in Paaren zu agieren und hielten sich dicht beieinander, als sei dies irgendeine Art von Dreibein-Wettlauf, bei dem es allein um die Ehre ging. »Das ist kein Stuck!«, schrie ein kleines blondes Mädchen verärgert den Jungen neben sich an, der irgendwie verstört wirkte. »Daran bringen sie nur den Feuerlöscher an! Wir müssen weiter nach Stuck suchen!«
    Sie rannten auf dem Gang hin und her, betrachteten eingehend Wände, Fußboden, Decke, bogen um eine Ecke und waren verschwunden, gefolgt von ein paar Nachzüglern, wie es bei jeder Stampede üblich ist. In der Ferne hörte ich Tiler rufen: »Nein, bleibt in diesem Stockwerk! Bleibt in diesem Stockwerk! Ich sage euch, wann ihr die Treppe hinaufgehen dürft!« Er klang, als stünde er dicht vorm Nervenzusammenbruch.
    Eins der Kinder hatte seinen Zettel fallen gelassen. Ich hob ihn auf und betrachtete ihn. »Die Bonnington-Archiv-Architekturschatzsuche« stand darauf in einer Schrift, die aggressiv verkündete: »Ihr habt jetzt Spaß. Habt Spaß, verdammt!« Darunter befand sich eine Liste von architektonischen Objekten zusammen mit der spielerischen Aufforderung »Wie viele könnt ihr finden? Deckleiste, Stuckrosette,

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