Felix Castor: Ein Höllenhund kommt selten allein (German Edition)
steifen Sisalfasern, dass ich mich eine Weile ausruhen musste, ehe ich mit den Beinen weitermachte. Sie zu befreien, schaffte ich viel schneller, aber ich brauchte gute zehn Minuten, um sie zu massieren und Leben hineinzubringen, ehe ich wieder auf ihnen stehen konnte.
Okay, ich war frei. Aber wo zum Teufel befand ich mich? Ich startete von meinem Stuhl mit winzigen, behutsamen Schritten, die Arme vorgestreckt, bis ich auf eine Wand traf. Dann tastete ich mich daran entlang bis zur Ecke. Offensichtlich war es kein Schrank. Es war ein mittelgroßer Raum, obgleich die raue Oberfläche der Wände eher auf einen Lagerbereich als auf eine öffentliche Zone hindeutete.
Ich hatte die Absicht, den ganzen Raum zu umrunden, doch nach einem kurzen Stück der zweiten Wand stieß ich auf eine Tür – und auf deren höchst willkommenen Nachbarn, einen Lichtschalter. Ich sprach ein stummes Gebet und betätigte ihn. Drei Lichtleisten erwachten über mir flackernd zum Leben, so dass ich zuerst einmal im grellen Schein blinzeln musste.
Ich hatte richtig geraten: Dies war ein Lagerraum mit hoher Decke und tiefen Regalen, die sich über die gesamte Länge der gegenüberliegenden Wand erstreckten. Sie waren jedoch leer bis auf ein paar runde Dosen mit einem Durchmesser von knapp einem halben Meter, die wahrscheinlich alte Filmspulen enthielten. Als die Ausstellung auf die Reise ging, musste man so gut wie alles mitgenommen haben, was nicht niet- und nagelfest gewesen war. Entweder das, oder Gwillam hatte Befehl gegeben, mein Gefängnis auszuräumen, um sicherzugehen, dass ich nichts fand, was mir hätte zur Flucht verhelfen können.
Aber niemand ist perfekt. Als mein Blick die Runde beendete und ich auf die Wand genau gegenüber meinem Standort sah, stahl sich ein grimmiges Lächeln in mein Gesicht. Denn festgeschraubt an der Wand und leicht zu übersehen war eine kleine weiße Box mit einem roten Kreuz auf dem Deckel. Ein Erste-Hilfe-Kasten.
Mein Ticket in die Freiheit.
20
Der Inhalt eines Erste-Hilfe-Kastens variiert von Ort zu Ort, aber im Kern ist er immer gleich – Bandagen und Heftpflaster in einer Million unterschiedlicher Formate und Größen. Hinzu kommen gewöhnlich eine Flasche Desinfektionsmittel und einige Wattebäusche. Dieser enthielt sogar exotische Zutaten wie Savlon-Spray und Essig gegen Insektenstiche. Nichts davon war in diesem Moment sonderlich sinnvoll. Ich suchte nach Gegenständen, die entweder eine Spitze oder eine scharfe Kante hatten.
Ich hatte Glück. Ich fand eine kleine Schere, eine Splitter-pinzette und ein halbes Dutzend Sicherheitsnadeln.
Die Tür besaß ein simples Einsteckschloss ohne den Namen des Herstellers auf der Platte. Ich legte die Pinzette wieder in den Kasten zurück. Wahrscheinlich war sie zu breit und nicht kräftig genug. Ich bog eine der Sicherheitsnadeln zu einem halbwegs geraden Stift und funktionierte dazu die Schere zu einer Art Zange um. Ich bog das spitze Ende zu einem Haken. Nach einer Haarnadel ist dies meine Version von einem improvisierten Dietrich, und dieses Werkzeug war für einen derart einfachen Job wie hier sicherlich bestens geeignet.
Ich brauchte nicht mehr als fünf Minuten, um die drei Sperrhebel in die Freigabeposition zu schieben, und hörte am Ende, wie der dritte Hebel mit einem zufriedenstellenden Klicken nachgab. Ehe ich die Tür öffnete, knipste ich das Licht aus und wartete ab, bis sich meine Augen wieder an die Dunkelheit angepasst hatten. Unter der Tür drang kein Licht herein. Wenn das der Fall gewesen wäre, hätte ich es schon vorher, ehe ich das Licht einschaltete, bemerken müssen. Unter den gegebenen Umständen war das vordringliche Ziel, etwas zu sehen, ehe ich gesehen wurde. Ansonsten würde es für mich »Zurück auf Start« heißen.
Nach etwa einer Minute öffnete ich die Tür so behutsam und so leise ich konnte. Ich schaute hinaus und wartete, bis sich aus der dort herrschenden, intensiveren Dunkelheit die ersten Formen herausschälten, ehe ich mein Gefängnis verließ. Ich befand mich in einem anderen Teil des weitläufigen Ausstellungsbereichs, genauso düster und leer wie der, in dem Gwillam mich ausgefragt hatte. Ich war mir ziemlich sicher, dass es jede Menge Wege gab, die auf die Straße oder in andere Teile des South-Bank-Komplexes führten, die für die Öffentlichkeit noch zugänglich waren. Ich musste nur darauf achten, dass ich auf dem Weg nicht mit Gwillams fröhlicher kleiner Bande zusammenstieß. Im Falle Pos hieß das
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