Felix Castor: Ein Höllenhund kommt selten allein (German Edition)
aus.«
»Etwas Neues?«, wiederholte ich und hatte Mühe, den Unmut und die Enttäuschung aus meiner Stimme fernzuhalten. »Du hast den siebzehntausendsten Geburtstag schon einige Zeit hinter dir, Juliet. Gibt es da wirklich noch etwas Neues?«
Sie grinste. »Für den größten Teil dieser Zeit«, erinnerte sie mich, »kam ich nur auf Geheiß von Magiern auf die Erde, die stark oder dumm genug waren, mich zu rufen. Sie haben mich entweder benutzt, um ihre eigenen Begierden zu befriedigen – wobei sie gewöhnlich ihr Leben verloren, ganz gleich welche Schutzmaßnahmen sie ergriffen – oder um ihre Feinde zu vernichten, woraufhin andere Menschen starben. Aber wenn sie die Absicht hatten, eine Frau zu zerstören, waren es meine Vettern, die Incubi, die gefragt waren. In der ganzen Zeit wurde ich niemals gegen eine Frau gehetzt. Oder von einer Frau beschworen.«
Ich erkannte plötzlich, in welche Richtung sich das Ganze bewegte.
»Nun, beteiligt sind vorwiegend die gleichen Hormone in unterschiedlicher Konzentration«, sagte ich beiläufig. Der gelangweilte Tonfall kostete mich jedoch unendliche Mühe. Das Gefühl der Leere begann in meinem Magen, wanderte weiter in meinen Schritt und sank weiter in Richtung Süden.
»Für mich«, sagte Juliet, »ist es anders. Oder zumindest nehme ich an, dass es anders sein könnte. Wollust zu empfinden – reine Wollust – ohne den störenden Impuls, zu jagen und zu töten und zu fressen …«
»Woher willst du wissen, dass er sich nicht bemerkbar macht?«, fragte ich und betrachtete meine Fingernägel, als interessierte mich ausschließlich ihre mangelnde Sauberkeit.
»Ich weiß es nicht. Aber ich denke, ich möchte es mal versuchen.«
»Na schön, dann versuch’s«, sagte ich verzweifelt. »Aber muss es ausgerechnet in diesem Moment …«
»Was für ein nettes Lokal«, sagte eine Stimme hinter mir. Während ich mich umdrehte und mir auf die Zunge biss, holte Susan Book einen Stuhl von einem der anderen Tische und stellte ihn zwischen uns. »Wie schön, dass man im Freien auf der Straße essen kann. Es ist so europäisch, so kontinental. Gibt es etwas Besseres, Mister Castor?«
Ich bestätigte, unaufrichtig, dass es nichts gab, was mir lieber sei, als auf der Straße zu speisen. Ich fügte nicht hinzu, dass ich wahrscheinlich auch dort schlafen würde.
Susan sah aus, als sei sie wieder ganz die Alte: schüchtern und unsicher und um Nachsicht bittend für eine ganze Menge Dinge, an denen sie nicht schuld war. Sie erzählte uns vom Stand ihres Gerichtsverfahrens und dass ihr Rechtsanwalt mit Hilfe eines Antrags auf Anerkennung eingeschränkter Schuldfähigkeit auf Grund zeitweiliger Unzurechnungsfähigkeit ein erheblich milderes Urteil würde herausschlagen können. Es sei schließlich ein allgemeiner Tumult gewesen. Die meisten Beteiligten wären unbescholtene Bürger, die keinerlei Vorstrafen aufwiesen.
»Keinerlei Vorgeschichte«, wiederholte sie verträumt. »Als er diese Formulierung benutzte – über mich –, erkannte ich plötzlich, dass er recht hatte. Ich hatte überhaupt keine Geschichte. Keine Vergangenheit, weil ich niemals den Mut hatte, hinauszugehen und eine Gegenwart zu haben.«
»Und was ist mit Ihren religiösen Ansichten? Mit Ihrem Glauben?«, fragte ich. Ich weiß, wie das klang. Man muss mir einfach glauben, wenn ich behaupte, dass der Tonfall nicht so abfällig war wie die Worte.
»Ich glaube noch immer an Gott«, versicherte sie mir mit ernsthafter Miene. »Aber – ich glaube nicht, dass ich zu einem kirchlichen Amt berufen bin. Ich kehre in meinen vorigen Job zurück und versuche, ein wenig intensiver an der Welt teilzuhaben.«
»Und welchen Job hatten Sie früher?«, fragte ich.
»Ich war Bibliothekarin in Stepney.«
Gewöhnlich wäre ich niemals auf etwas derart Spießiges eingegangen. Aber irgendwie war dies ein Tag, der völlig aus dem Rahmen fiel. »Ja«, pflichtete ich ihr bei. »Das ist in der Tat …«
»Wir sollten jetzt gehen«, sagte Juliet.
Sie erhob sich, und Susan folgte ihr mit einem Lächeln hingebungsvoller Bewunderung.
»Wir sehen uns, Felix«, sagte Juliet.
»Klar.«
»Gute Nacht, Mister Castor.«
Diesmal nickte ich nur.
Meine wird nicht halb so gut sein wie eure,
dachte ich düster.
Sie entfernten sich Arm in Arm. Überall auf der Straße, so weit ich ihnen nachschauen konnte, rannten Männer gegen Häuserwände und rempelten einander an und gerieten beinahe unter Automobile, während sie sich neugierig nach
Weitere Kostenlose Bücher