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Felix Castor: Ein Höllenhund kommt selten allein (German Edition)

Felix Castor: Ein Höllenhund kommt selten allein (German Edition)

Titel: Felix Castor: Ein Höllenhund kommt selten allein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Carey
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können nicht weinen. Manchmal können sie Tränen imitieren, die sie in ihrem Leben vergossen haben, aber sie produzieren selbst keine Feuchtigkeit, keine Nässe mehr.
    »Vielleicht siehst du deinen Vater wieder«, sagte ich zu ihr und ließ ihr damit den einzigen Trost zuteilwerden, der mir einfiel. »Wenn es nach diesem Leben und nach diesem Tod etwas gibt, dann wird er allein von allen anderen dich dort finden. Bisher hat er sich durch nichts aufhalten lassen.«
    Abbie antwortete nicht. Indem sie sich leicht drehte wie in einem Windhauch, den ich nicht spürte, schaute sie sich in der engen Zelle um. Es war nicht das erste Gefängnis, das sie in ihrem kurzen, reduzierten Leben gesehen hatte, mit ein wenig Glück wäre es das letzte.
    Ich begann wieder zu pfeifen. Diesmal nicht die Melodie der Beschwörung und nicht des Exorzismus, sondern der Losbindung. Ich pfiff die Töne, die sie von der Haarsträhne befreiten, so dass sie gehen konnte, wohin sie wollte, unbehelligt von den Fankes und Gwillams dieses sublunaren Drecklochs.
    Aber Abbie entfernte sich nicht. Ich vermutete, dass sie in diesem Moment nicht wusste, wohin sie sich hätte wenden sollen, dass sie keinen Ort kannte, an dem sie sich sicher oder erwünscht hätte fühlen können. Der Einzige, der sie je geliebt oder versucht hatte, ihr ein wenig Glück zu vermitteln, war tot. Sie konnte zum Oriflamme zurückkehren und dort auf ihn warten, aber nicht jeder steht wieder auf, und wenn, kann man nicht immer genau sagen, wohin er sich begibt. Sie konnte es nur vermuten. Genau genommen war alles, was ihr geblieben war, reine Vermutung.
    Ich ging ihre Möglichkeiten durch. Man konnte nicht mit einem glücklichen Ende rechnen, wenn man tot war. Es ging nur um Schadensbegrenzung.
    »Auf Wiedersehen, Abbie«, sagte ich, stand auf und wandte mich nach Osten. Nicht nach Mekka, sondern zu etwas völlig anderem auf der anderen Seite der Stadt. »Auf Wiedersehen und viel Glück. Ich hoffe, dass sich für dich alles zum Guten wendet.«
    Ich begann wieder zu pfeifen, diesmal eine Melodie, die ich lange nicht mehr gespielt hatte: »Henry Martin«. Ein Prickeln wie elektrischer Strom lief durch meine Arme bis in die Fingerspitzen.
    Die Charles-Stanger-Klinik war einige Meilen weit weg, aber Geister müssen sich – wenn sie überhaupt reisenderweise den Ort wechseln – nicht auf Lichtgeschwindigkeit beschränken. Trotzdem spielte ich das Lied zweimal vollständig und hatte es bereits zum dritten Mal angestimmt, ehe ich ihre Präsenz spürte, als sie sich aus einer Richtung näherten, die nichts mit Norden, Süden, Osten oder Westen zu tun hatte. Ich schaute mich nicht um. Ich hatte auf seltsame Art und Weise das Gefühl, als würden die Mädchen an Abbie keinen Gefallen finden, wenn sie mich mit ihr reden sahen – als ob der Makel des Lebens an ihr haftete und sie zu einem Fremdkörper machte.
    Ein Flüstern war zu hören, das nicht aus Worten bestand, die ich verstehen konnte. Dann herrschte Stille, und die Stille dehnte sich aus. Das Gefühl ihrer Nähe zu mir verblasste und wurde durch das akute Bewusstsein der eisigen Kälte des Steinfußbodens unter meinen Strümpfen ersetzt. Außerdem bemerkte ich, wie abgestanden die Luft in der Zelle war.
    Als die letzten Töne der Melodie verhallt waren und meinen Geist verlassen hatten, drehte ich mich wieder um.
    Ich war allein in der Zelle – und so müde wie noch nie zuvor.

24
    Basquiat hielt ihr Versprechen. Die Anschuldigungen wurden fallen gelassen, und ich wurde im Laufe des Samstagnachmittags entlassen. Die Kleider, die im Whittington Hospital geblieben waren, waren nicht wieder aufgetaucht, daher musste ich mich weiterhin mit dem schicken Outfit begnügen, das ich Sallis abgenommen hatte. Mittlerweile roch es noch würziger als zu dem Zeitpunkt, als ich es übernommen hatte.
    Zuerst fuhr ich raus nach Walthamstow, um nach Nicky zu sehen, denn ich glaubte Fankes nichtssagenden Behauptungen nicht, dass seine Anhänger meinen Lieblingstoten heil und in einem Stück gelassen hatten. Aber Nicky sah kein bisschen mitgenommen aus und reagierte sogar ein wenig blasiert – obgleich der größte Teil des Kinos, abgesehen von seinem innersten Heiligtum oben im Projektionsraum, gründlich zerlegt worden war.
    »Sieh mal, Castor«, erklärte er. »Ich habe hier alles doppelt und dreifach versichert, und ich habe bereits die Schadensmeldungen eingereicht – durch Tarnfirmen natürlich. Ich muss zusehen, dass ich nicht zu viel

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