Felix Castor: Ein Höllenhund kommt selten allein (German Edition)
Zeit sicherlich darauf zu sprechen kämen. Und der Händedruck, von dem ich mir erhofft hatte, dass er mir irgendeinen Hinweis auf die Person unter der Sonnenbräune liefern würde, verriet mir so gut wie nichts. Manchmal ließ mich das, was immer mir ermöglichte, die Toten zu belauschen, durch Hautkontakt auch einen Blick auf die Emotionen der Lebenden werfen. Bei Stephen Torrington sah ich nichts als ein Feuer der Entschlossenheit, das alles andere überdeckte.
Melanie war ebenfalls blond und ebenfalls hochgewachsen – die beiden bildeten ein perfektes Paar, sei es durch Schicksal oder die geschickte Planung eines Country Clubs – und der intakten Seite nach zu urteilen, hatte sie ein wunderschönes Gesicht mit aristokratischen Wangenknochen und lebhaften blauen Augen mit Flecken in einem helleren Blau wie Lichtreflexe. Das hässliche geschwollene Gewebe auf der linken Seite verdarb irgendwie die Wirkung. Sie sah aus, als sei sie in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt gewesen – oder als hätte sie jemand gegen eine Wand geschleudert.
Ebenso wie Steve war sie makellos gekleidet und strahlte Reichtum und Status aus. Ebenso wie er war sie anscheinend eingeschlossen in einen Sarkophag heftiger Emotionen, der wahrscheinlich einen lauten Ton von sich gegeben hätte, wenn ich mit einem Finger dagegengeklopft hätte. Sie schien sich regelrecht zu umarmen, als müsste sie sich selbst Trost spenden. Der Händedruck hatte komplexe, einander überlagernde Stränge positiver und negativer Gemütsregungen enthüllt: Angst, Stolz, Scham, heftige Liebe, mehr Angst – ein Wirrwarr von Emotionen, die tunlichst nicht nebeneinander existieren sollten.
Steve erklärte, er sei eine Art juristischer Verfahrensbevollmächtigter eines Familienunternehmens in Stoke Newington – zwar noch kein vollwertiger Partner und Teilhaber, aber fast. Melanie war Rechtsanwältin, wodurch sie einander kennengelernt hatten. Sie seien seit achtzehn Jahren verheiratet. Diese Art oberflächlicher Konversation war so steif und unbeholfen, als fragte ich sie, wo und wie sie sich mit Syphilis angesteckt hatten.
Es lief auch auf andere Art und Weise schwerfällig und unbeholfen weiter. Mit drei Personen darin fühlte mein Büro sich bereits überfüllt an. Fügte man die Tatsache hinzu, dass die Milch, die im tragbaren Kühlschrank stand, sauer geworden war, sich dann grün verfärbt und in eine neue Lebensform verwandelt hatte, seitdem ich das letzte Mal hier gewesen war, und ich die mit einem dichten Pilzrasen zugewucherten Tassen hinter dem Aktenschrank verstecken musste, war meine professionelle Fassade um einiges löchriger als üblich. Sobald ich sie aufgefordert hatte, Platz zu nehmen, konnte ich ihnen noch nicht einmal eine Tasse Kaffee anbieten.
Dann eben sofort zum Geschäftlichen.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte ich.
»Unsere Tochter …«, murmelte Mel, wobei ihre Stimme durch die Schwellung auf der linken Seite ihres Unterkiefers leicht gedämpft wurde. Danach fehlten Mel anscheinend die Worte.
»Abbie«, nahm Steve den Faden auf. »Abigail. Sie ist verschwunden.« Während Mels Stimme kontrolliert neutral geklungen hatte, war seine derart angefüllt mit ungebändigter Emotion, dass sie mir wie halb erstickt vorkam. Er blätterte in seiner Brieftasche und holte etwas Kleines, Rechteckiges heraus, das er mir reichte. Ich nahm es und drehte es um, so dass ich es betrachten konnte. Es war ein Passbild von einem Mädchen. Dem Gesicht und der Statur nach zu urteilen dreizehn oder vierzehn Jahre alt, mit langem blondem Haar, wie man es von Werbefotos auf Shampooflaschen kennt, und einem verlegenen, zaghaften Lächeln. Um den Hals hing eine Kette mit einem goldenen Anhänger in Herzform. Etwas lag in den Augen der Kleinen … etwas Trauriges und Gequältes. Vielleicht aber auch nicht. Möglicherweise fügte meine Erinnerung im Licht der späteren Ereignisse diese Nuance nur hinzu.
»Das tut mir aufrichtig leid«, sagte ich und meinte es so ehrlich, wie jeder andere es unter den gegebenen Umständen getan hätte. Sie waren schließlich Fremde für mich, und Abigail war nur ein Name. »Seit wann?«
Das ist eine dumme Angewohnheit von mir. Wenn ich nicht weiß, was ich sagen soll, dann fange ich an zu fragen wie ein Arzt, der eine Diagnose erstellen will.
Steve sah Mel auffordernd an, damit sie antwortete, und abermals hatte sie offenbar Schwierigkeiten, die richtigen Worte zu finden. »Samstag«, sagte sie zögernd, als suchte
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