Felsenfest: Alpenkrimi (German Edition)
Stengele warf Jennerwein die Kletterausrüstung zu, die er aus dem Bergwachthubschrauber mitgenommen hatte.
»Wir dürften es in zehn Minuten schaffen.«
Jennerwein nickte schweigend. Ohne Seilsicherung wäre es noch schneller gegangen, aber beide wollten nichts riskieren. Sie vergurteten sich gegenseitig und stiegen ab.
Stengele war ein hervorragender Kletterer, Tritt für Tritt stieg er nach unten, sicherte Jennerwein und sich selbst. Jennerwein hatte im Revier angerufen und die Sachlage kurz erklärt. Maria hatte zur Vorsicht gemahnt und viel Glück gewünscht. Da der Fels nicht ganz senkrecht, sondern leicht schräg nach außen abfiel, musste das Opfer an manchen Stellen aufgeschlagen sein. Sie suchten nach Spuren, doch es war nichts zu finden. Stengele sprang als Erster auf den Boden. Als sie bei der Unglücksstelle ankamen, gab es keine Zweifel. Der Mann auf dem Stein war tot. Der Wind hatte seine Jacke bewegt.
Er hatte die Augen starr nach oben gerichtet, der Mund stand leicht offen, als ob er noch etwas hätte sagen wollen. Jennerwein erkannte den Mann auf dem Stein nicht. Mit Sicherheit war es nicht Bernie Gudrian. Jennerwein konnte jedoch keine Erleichterung darüber verspüren. Er betrachtete das Gesicht genauer. Der Tote hatte eng beieinanderliegende Augen und ein energisches, vorgeschobenes Kinn.
»Genickbruch«, sagte Stengele. »Er ist genau an der Stelle heruntergestoßen worden, an der wir abgestiegen sind. Wenn er allerdings sechzig Meter weit direkt auf diesen Stein gefallen wäre, dann würde er sich in einem viel schlimmeren Zustand befinden. Sehen Sie die Spuren dort: Er war nicht sofort tot. Er ist noch eine kleine Strecke gerobbt. Das ist unmöglich, wenn man ganz von oben runterfällt.«
»Wie ist Ihre Theorie?«
Stengele wies hinauf.
»Er wird gestoßen, dann fällt er ein paar Meter, kann sich allerdings an dem vorspringenden kleinen Felsen festhalten. Er entschließt sich, nach unten weiterzuklettern. Hätte er das nur nicht getan! Wäre er nur dort geblieben, wo er war. Denn er ist kein geübter Kletterer, er ist erschöpft, er ist bestimmt schon verletzt. Er steigt weiter ab, im unteren Drittel verlässt ihn die Kraft. Oder er bekommt Muskelkrämpfe. Er kann sich nicht mehr halten, er stürzt ab, fällt noch zwanzig Meter, verfängt sich vielleicht sogar noch in einem Busch.«
»Er hätte gerettet werden können. Verdammt nochmal. So ein Sturkopf.«
Die beiden Beamten beugten sich über den Mann. Stengele griff in seine Taschen, dort waren keinerlei Hinweise auf seine Identität zu finden. Sie sahen sich um. In ein paar Metern Entfernung fand Jennerwein die Brieftasche. Er streifte sich Plastikhandschuhe über und öffnete sie. Der Mann war Heinz Jakobi. Und jetzt erinnerte sich Jennerwein. Ein eifriger, strebsamer Typ. Sehr gute Noten, aber kein geselliger Zeitgenosse, eher ein unnahbarer Einzelgänger. War mal mit Susi Herrschl zusammengewesen, hatte BWL studiert, hatte dann in der freien Wirtschaft Karriere gemacht. Viele Auslandsaufenthalte. Topmanager. Mehr wusste Jennerwein nicht.
»Kennen Sie ihn?«, fragte Stengele.
»Ja, und ich schäme mich ein wenig, ihn nicht sofort erkannt zu haben.«
»Der Tod verändert einen, Chef, das sage ich Ihnen.«
»Er hat allerdings damals nicht zu meinem engeren Freundeskreis gehört.«
»Chef, ich schlage vor, ich bleibe hier. Ich kümmere mich um den Abtransport der Leiche. Klettern Sie alleine zurück auf den Gipfel. Später holen wir Sie dann ab.«
Jennerwein war schnell oben. Er wollte die Zeit nutzen. Er sah sich nochmals genau auf dem Plateau um. Was war ihm vorher aufgefallen, vor der großen Vernebelung? Die Geiseln, verteilt über das ganze Plateau. Das Gipfelkreuz wie zum Hohn fröhlich blitzend. Der etwas erhöhte Stein. Der Ring der SEK ler, der sich langsam dem Gipfel näherte und durch den es kein Entkommen gab. Ein Geiselnehmer, der trotzdem entkommen war.
Plötzlich hielt er inne. Er blickte nochmals genauer hin. Der Schreck fuhr ihm in die Glieder. Die hindrapierte Maschinenpistole, die kleine Bison, die mit dem Lauf auf die Geiseln gezeigt hatte – sie lag nicht mehr da. Der Geiselnehmer! Er war hier oben.
»Alles in Ordnung?«, schrie Stengele durch das Funktelefon. Jennerwein antwortete nicht. Das war jetzt viel zu riskant. Er schaltete das Gerät aus, zog seine Dienstwaffe, warf sich hinter einen Stein und nahm das ganze Gipfelplateau in den Blick.
Er war bereit.
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Konzentrier
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