Felsenfest: Alpenkrimi (German Edition)
und warf sich stöhnend auf die andere Seite. Sie hatte Krämpfe in den Beinen, rasende Kopfschmerzen, und das war wohl erst der Anfang einer verdammten Grippe, die sie sich eingefangen hatte. Ihr Hals zog sich zusammen, ihre Bronchien fühlten sich unangenehm rau und pelzig an, alle paar Sekunden musste sie dem schmerzhaften Hustenreiz nachgeben. Das hatte gerade noch gefehlt! Sie würde die Grippe im Krankenhaus auskurieren müssen, dabei hasste sie Krankenhäuser. Eine Grippe! Und sie wollte doch am Montag schon wieder mit ihrer Arbeit fortfahren.
Das Klassentreffen, eine soziopathische Konfliktsituation.
Fast alle vom Jahrgang 82 / 83 hatten den Fragebogen ausgefüllt, die Erhebung war ein voller Erfolg gewesen. Sie hatte vorgehabt, heute Abend eine Kontrollbefragung durchzuführen – aber das ging ja nun leider nicht mehr. Sehr schade, denn der Jahrgang 82 / 83 war aus soziologischer Sicht eine richtige Goldmine gewesen, es wimmelte von hochaggressiven Verhaltensweisen, soziopathischen Mustern und unbewussten Traumata. Laut Fragebogen empfand fast ein Viertel ihres Jahrgangs die Schulzeit als ›blanken Terror‹, knapp die Hälfte als ‹eher schlecht›, nur ein Einziger schilderte die Schulzeit als schön, die Klasse als harmonisch, die Lehrer als gut, die Mitschüler als angenehm. Ein Einziger! Uta Eidenschink hatte daraufhin etwas getan, was unter Statistikern streng verpönt war, sie hatte nachgesehen, wer denn dieser glückliche Ausreißer war. Eigentlich hatte sie ja auf Harry Fichtl getippt, aber zu ihrer Verwunderung war es Beppo Prallinger gewesen, der gemütliche Prallinger, der jetzt einen Verwaltungsjob im Ministerium innehatte. Finanziell hatte er zwar ausgesorgt, aber alle anderen aus dem Jahrgang waren auf der Karriereleiter höher geklettert. Ein typischer Phlegmatiker, der leicht zufriedenzustellen war. Das war bei ihr natürlich ganz anders. Sie war der Ehrgeiz in Person. Genervt stöhnte sie auf. Helmut Stadler neben ihr brabbelte schon wieder, hustete und schniefte.
»Aus der Mittelreihe!«, murmelte er. »Der Mörder kommt immer aus der Mittelreihe.«
Auf dem Gipfel hatte doch auch dauernd jemand gebrabbelt, vielleicht gebetet, vielleicht geflucht. War das Gustl Halfinger gewesen? Oder Antonia Beissle? Uta Eidenschink mochte beide nicht. Die eine war eine geschwätzige Ratschkathl, die keine Sekunde Ruhe geben konnte, die andere eine eingebildete und hochmütige Kuh, die alles besser wusste. Oberstaatsanwältin! Uta Eidenschink nieste. Sie hatte mal in einer soziologisch-kriminologischen Untersuchung gelesen, dass Geiseln ihre Aggressionen nicht gegenüber dem Geiselnehmer, sondern gegenüber ihren Mitgeiseln auslebten. Sie verstand jetzt, warum.
Im Hubschrauber, der als Erster landete, waren diejenigen mit den schwereren Verletzungen untergebracht. Der Heli setzte eben mit den Kufen auf dem Landeplatz auf. Der zweite Hubschrauber drehte noch eine Schleife. Die Nachmittagssonne stach herunter. Bisher war alles nach Plan verlaufen. In ein paar Minuten würden sie, vermutlich säuberlich getrennt voneinander, in einzelnen Krankenhauszimmern liegen.
Ob die Polizei noch heute Abend mit den Vernehmungen beginnt? Je schneller, desto besser. Zwei Jahre Vorbereitungszeit haben sich gelohnt. – Erstaunlich, wie einfach sich die Waffe hatte besorgen lassen. Die war innerhalb von zwei Tagen geliefert worden, anonym, an einen geheimen Ort, gegen einen kleinen Aufpreis selbstverständlich. – Jetzt nur noch die Befragungen und Verhöre abwarten. – Dann in die Endstufe des Projekts eintreten. – Alles läuft wie geschmiert. Es ist ein perfekter Plan. Bald hab ichs geschafft. Bald bin ich stinkreich.
43
»Wie weit ist es?«, fragte Jennerwein.
»Bis dort hinunter?« Stengele kniff die Augen zusammen und schätzte die Entfernung ab. »Sechzig Meter. Sollen wir nicht auf den Sani-Hubschrauber –?«
»Nein«, sagte Jennerwein bestimmt. »Wer weiß, wann der kommt. Wir klettern jetzt hinunter, machen die Erstversorgung. Mit Ihnen als Cokletterer wird das kein Problem sein.«
Die Bergwachtler und die SEK -Leute hatten den Berg an seinen drei sanfter geschwungenen Flanken gründlich durchkämmt, die südliche Steilwand jedoch war nur vom Hubschrauber aus beobachtet worden, das zerklüftete Gelände ließ sich allerdings nicht an allen Stellen einsehen. Die Gestalt in der wespenartig gestreiften, gelb-schwarzen Windjacke mit Kapuze war vom Helikopter aus nicht erkennbar gewesen.
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