Fenster zum Tod
dafür schon jemanden?«
»Allerdings«, sagte Florence. »Kennen Sie die Arbeiten von Ray Kilbride?«
Lewis tippte den Namen in die Suchmaschine ein, noch während sie ihn aussprach. Als die Treffer angezeigt wurden, klickte er auf »Bilder«.
Auf dem Bildschirm erschienen unzählige briefmarkengroße Bildchen.
»Ja, ich glaube«, sagte Lewis. Er klickte eine Zeichnung von Newt Gingrich an, die in einer Zeitschrift in Chicago erschienen war. Als Urheber wurde Ray Kilbride genannt. »Der hat doch diese Gingrich-Karikatur gemacht, oder?«
»Gut möglich. Er hat sehr viele gemacht.«
Lewis klickte noch einmal, und diesmal erschien eine Karikatur von Carlo Vachon, dem berüchtigten New Yorker Gangsterboss, der die Freiheitsstatue mit der Waffe bedrohte. »Und an noch eine kann ich mich erinnern. Die von diesem Obergangster.«
»Kann sein«, sagte Florence. »Wie gesagt, er hat ein ziemlich umfangreiches Portfolio.«
»Mhm«, machte Lewis. Er hatte gerade auf die nächste Seite geklickt, die von oben bis unten voller Bilder war.
Eins davon war keine Zeichnung, sondern ein Foto. Er klickte es an und sah gleich darauf einen Mann vor sich, der sich mit aufgekrempelten Ärmeln und einer Airbrush-Spritzpistole in der Hand über einen Zeichentisch beugte und dabei in die Kamera lächelte.
Das Foto stammte von der Website einer Kunstzeitschrift und wurde von einem kurzen Artikel über Ray Kilbride begleitet, der in Burlington, Vermont, lebte.
»Sind Sie noch da?«, fragte Florence.
»Ja, ja, ich bin noch da«, sagte Lewis. Er hielt den Ausdruck, den er in dem Künstlerladen herumgezeigt hatte, neben den Bildschirm seines Computers und verglich die beiden Gesichter miteinander.
»Wollten Sie sonst noch etwas wissen?«, fragte Florence.
»Nein, ich glaube, ich habe die Antwort auf meine Frage gefunden«, sagte Lewis.
»Wissen Sie, wann der Artikel im Journal erscheinen wird«, fragte Florence. »Ms. Ford wird nämlich –«
Lewis legte auf. Dann klickte er sich weiter zum Online-Telefonbuch, wo er einen Eintrag für einen R. Kilbride in Burlington fand.
Er griff noch einmal zum Hörer.
»Ich höre, Lewis«, sagte Howard.
»Hab ihn«, sagte Lewis.
Sechsundvierzig
O ctavio Formosa konnte sich nicht entscheiden.
Sollte er Allison Fitch – das war sie jetzt nämlich für ihn, und nicht mehr Adele Farmer – sagen, dass er ihre Mutter in Ohio angerufen hatte? Dass Doris Fitch heute mit dem Flugzeug kommen würde, um ihre Tochter wieder in die Arme zu schließen? Oder sollte er nichts sagen? Sollte es eine Überraschung für sie bleiben?
Er hatte zwar den Verdacht, dass sie erst einmal sauer auf ihn wäre, aber zu guter Letzt, davon war er überzeugt, wäre sie ihm bestimmt dankbar. Ja, er hatte in ihrer Tasche rumgeschnüffelt und ihre Mutter hinter ihrem Rücken angerufen. Aber oft genug waren es Sturheit und Stolz, die verhinderten, dass Familienangehörige zueinanderfanden, auch wenn sie sich nacheinander sehnten. Stolz war etwas Schreckliches, sinnierte Octavio. Er stand so oft dem Glück im Wege.
Einer der Gründe, warum er es Allison nicht sagen wollte, war, dass er ihr Gesicht sehen wollte, wenn ihre Mutter das Hotel betrat. Octavio hatte viele Sendungen im Fernsehen gesehen, besonders Oprah, wo Menschen zusammengeführt wurden, die jahrelang nichts voneinander gehört hatten. Am schönsten war es für ihn, die Mienen der Leute zu betrachten, wenn eine lange verschollene Tochter oder ein Sohn auf die Bühne kamen, um sie zu umarmen.
Octavio musste zugeben, dass er ein bisschen sentimental war.
Er hätte sein Geheimnis wirklich gern vor Allison gehütet, doch als ihr Freund hatte er das Gefühl, er müsse ehrlich zu ihr sein. In der kurzen Zeit, in der sie gemeinsam gearbeitet hatten, hatten sie Vertrauen zueinander aufgebaut. Octavio hatte ihr sein Herz ausgeschüttet und Allison ihm ihres, auch wenn sie dabei ein paar Details verändert hatte, um ihre wahre Identität nicht preiszugeben.
Sie steckte in Schwierigkeiten, das wusste er. Hatte es gleich bei ihrer ersten Begegnung gespürt. Und sie war jung. Eine junge Frau, die in Schwierigkeiten steckte, brauchte ihre Mutter.
Als Allison, sich noch immer den Schlaf aus den Augen reibend, am nächsten Morgen aus dem Hinterzimmer ins Büro trat, wollte er es ihr schon sagen. Doch dann verließ ihn der Mut. Wie jeden Morgen benutzte sie das an das Büro grenzende Bad, um sich zu duschen und anzuziehen. Punkt acht Uhr dreißig war sie bereit für die
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