Fenster zum Zoo
ihm einfiel, dass er ihre Hausnummer nicht kannte. Sie konnte auch einen anderen Weg genommen haben. Er drehte um, rannte zurück, wieder an dem Mann vorbei, der ihn erstaunt musterte, am Nebeneingang und am Haupteingang vorbei bis zur Riehler Straße. Er kreiste den Zoo systematisch ein. Nelly war nirgendwo zu sehen.
Als er vor der weißen Kalksandsteinmauer stand, dachte er, was Ben Krämer konnte, könne er schon lange. Er lief die Mauer entlang bis zu der Stelle, von der er annahm, dass dahinter die Bärenanlage sein müsse.
Zwischen Bürgersteig und Mauer war ein schmaler Grünstreifen angelegt. Unter einzelnen Bäumen machte sich Unkraut breit. Muschalik warf seinen Knirps in die Brennnesseln, stieg in eine Astgabel und versuchte von dort aus Halt an der Mauer zu finden. Er rutschte immer wieder ab. Ben Krämer war länger gewesen und vor allem jünger. Endlich schaffte er es, mit den Händen die obere Steinreihe zu fassen. Mit aller Kraft zog er seinen Körper nach und konnte schließlich das Kinn auflegen.
Ungefähr zwei Meter weiter rechts sah er die Höhlentür, und er sah Nelly. Einsicht in die Bärenanlage hatte er von dort nicht, die noch höhere Bruchsteinmauer versperrte sie. Nelly schloss gerade die Türe gewissenhaft ab, rüttelte noch einmal zur Kontrolle am Gitter. Dann sah er, dass sie nach einem Gegenstand suchte, den sie in der Dunkelheit nicht fand. Schließlich ging sie den Wirtschaftsweg hinunter.
Muschalik ließ sich fallen, seine Knie scheuerten über die Mauer. Es tat weh, einen Augenblick verharrte er bewegungslos und lauschte in die Nacht. Hinter ihm ratterte eine hell erleuchtete, leere Straßenbahn in den Tunnel. Irgendwo bellte ein Hund.
Atemlos kam er zum Nebeneingang.
Sie war erhitzt, so wie er, als sie das Tor öffnete, und sie sich im Licht der Straßenlaterne endlich gegenüberstanden. Ihr hellbraunes Haar hatte sich aus dem Gummiband gelöst und lag strähnig auf ihren Schultern. Er vermisste das rote Halstuch. Und er sah, dass der rote Sommermantel dunkle Flecken hatte. Ehe er sie danach fragen konnte, sagte sie außer Atem: »Haben Sie sich verlaufen?«
»Nein«, stammelte er, »ich wollte nur sicher sein, dass Sie heil zu Hause ankommen.«
Sie sah an ihm herunter, auf seine Beine. Als er ihren Blicken folgte, entdeckte er Löcher in seiner Hose über den Knien. Er sah nicht besser aus als sie.
»Es ist nicht mehr weit, kommen Sie«, forderte sie ihn auf.
Muschalik ging stumm neben ihr her. Er hatte sie gesucht, verfolgt, und nicht nur, weil er sie beschützen wollte. Er hatte ihr in einem unbestimmten Verdacht aufgelauert.
Sie wählte nicht die Stammheimer Straße, sondern ging geradeaus den Riehler Gürtel herunter. Sie folgten ein kurzes Stück der Amsterdamer Straße, dann bog sie rechts in die Barbarastraße ein und blieb nach ein paar Metern vor einem Hauseingang stehen. Es war die Nummer 8.
»Gute Nacht«, sagte sie und suchte ihren Schlüssel in den Manteltaschen.
»Sie waren lange im Zoo«, sagte Muschalik mit belegter Stimme.
»Ich habe nach dem Grizzly gesehen. Also, gute Nacht, noch einmal.«
»Gute Nacht.«
Muschalik sah die Tür ins Schloss fallen.
Im gleichen Augenblick begann der Regen. Er hatte den Knirps auf der Riehler Straße liegen lassen und fluchte. Der Regen wurde stärker. Er sah die Hauswand hoch, in keinem Fenster brannte Licht, auch nicht im Treppenhaus.
Morgen konnte er weiterfragen, versuchte er sich zu beruhigen, während er nass wurde. Morgen würden sie vielleicht im Rhein schwimmen, wenn es wieder aufgehört haben sollte zu regnen, oder zumindest die Füße eintauchen, am Ufer sitzen und den Schiffen nachsehen, und er würde ihr zeigen, wie man Steine über die Wasseroberfläche springen lässt. Wenn sie morgen immer noch nicht reden wollte, würde er sich Jartmann vorknöpfen und ihn festnageln, und wenn alles nichts half, würde er nach Duisburg fahren.
Morgen.
Er war in Gedanken bis zur Riehler Straße gelangt und fand im Unkraut seinen Knirps. Als er sich bückte um ihn aufzuheben, hörte er Metall scheppern und dachte, dass das Geräusch vom Knauf herrührte, der gegen die Mauer geschlagen hatte. Er wollte den Knirps aufspannen, aber er verhakte sich und klemmte, er ließ sich nicht öffnen und auch nicht mehr richtig schließen. Dann sah er einen kleinen, messingfarbenen Gegenstand in den Brennnesseln aufblitzen. Bevor er ihn wieder aus den Augen verlieren konnte, setzte er seinen Fuß darauf und hob ihn schließlich
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