Fenster zum Zoo
auf.
Es war eine Patrone, die er einsteckte, während eine Signallampe in seinem Kopf zu glühen begann.
10. Kapitel
Muschalik stand am nächsten Morgen lange vor der regulären Öffnungszeit ungeduldig vor dem Haupteingang.
»Boeh … boeh … boeh.« Ein klagendes Rufen drang durch den Zoo.
Und dann kamen sie. Sie hielten mit quietschenden Reifen direkt hinter ihm: der Notarzt, ein Einsatzfahrzeug der Polizei mit zwei Polizisten und den Leuten von der Spurensicherung, ein Leichenwagen mit zwei Bestattern, van Dörben und Kraft.
Das Tor wurde geöffnet, und sie rannten los. Die beiden Polizisten blieben draußen und sorgten dafür, dass niemand den Zoo betrat.
Kraft winkte Muschalik zu: »Los, komm mit!«
»Ich habe etwas für Sie.« Die Malerin stand plötzlich hinter ihm und zog aus ihrem Zeichenblock ein loses Blatt.
»Nicht jetzt«, winkte Muschalik ab.
Aber sie hielt ihm das Blatt entgegen. Er musste einen kurzen Blick darauf werfen, so viel Höflichkeit war er ihr schuldig.
Es war die Zeichnung eines Bären, der mit seiner vorderen Tatze in eine Falle geraten war, und Hyänen kreisten ihn ein. Er konnte sich nicht aufrichten, er konnte sich nicht wehren und war zum Sterben verurteilt. Die Hyänen warteten nur auf seinen Tod. Über ihnen schwebte ein Bengalgeier mit aufgerissenem Schnabel und weit ausgebreiteten Flügeln, die einen dunklen Schatten auf die Szene warfen. Ein paar dicke Regentropfen fielen auf das Blatt Papier, und die Kohlezeichnung begann wie ein Aquarell zu verschwimmen.
»Sie fragten mich nach der Bärenpflegerin«, erinnerte die Malerin ihn.
»Ja, ja, aber so wichtig war es nun auch wieder nicht«, sagte Muschalik ungeduldig. Er hatte jetzt wirklich keine Zeit für Kunst.
»Ich wusste nicht, wie ich erklären sollte, was ich dachte.«
»Bitte, wir können ein anderes Mal darüber reden«, drängte er und wollte ihr die Zeichnung zurückgeben, als er sah, dass der Bär das Gesicht von Nelly hatte und eine der Hyänen, die größte und stärkste in der Gruppe, das von Jartmann. Ihm fiel dessen Lachen wieder ein, das Lachen der Hyäne. Aber auch der riesige Bengalgeier hatte ein menschliches Gesicht, ein drohendes, unbekanntes Gesicht.
Irritiert gab er ihr die Zeichnung zurück, die sie unter die Blätter ihres Blocks schob.
* * *
Der Grizzly stand auf seinem Ausguck und schleuderte seinen Kopf hin und her und rief ohne aufzuhören. »Boeh … boeh … boeh.« Das nasse Fell klebte an seinem Körper. Am Gitter standen Kraft, Professor Nogge und alle Pfleger. Muschalik sah sofort, dass Nelly nicht unter ihnen war. Er schloss den Knirps notdürftig. Er wollte lieber nass werden, so wie die anderen, so wie der Grizzly. Er fühlte sich mittendrin in der Katastrophe, er war ein Teil von ihr geworden, nach der gestrigen Nacht.
»Thomas Jartmann«, sagte endlich Professor Nogge mit belegter Stimme, und ein Murmeln ging durch die Reihen.
Muschalik drängelte sich vor, blieb mit dem Knirps an Mattis’ olivefarbenem Pullover hängen und stolperte über eine Stufe.
»Wo ist Nelly?«
Muschalik wusste nicht, wer es gefragt hatte, vielleicht er selbst, aber niemand konnte eine Antwort geben.
»Wo ist Nelly?« Der Zoodirektor fragte jetzt in forschem, bestimmendem Ton. Aber auch er bekam keine Antwort.
»Schafft sie hierher«, befahl er.
»Ich regele das«, sagte Kraft, »wo wohnt sie?«
»Barbarastraße 8.«
Muschalik sah Kraft zum Haupteingang laufen und einen der beiden wartenden Polizisten wegschicken.
Muschalik starrte hinunter in die Bärenanlage. Der Grizzly rief sein »Boeh … boeh … boeh« ohne Unterlass, und sein riesiger Kopf musste schon ganz wirr sein vom Hin- und Herschleudern. Er hob im Wechsel die rechte und die linke Tatze, sein massiger Körper wankte von einer Seite zur anderen. Muschalik sah den Kopf von Jartmann hinter dem Baumstamm, seine Beine oder Arme sah er nicht. Sie konnten hinter dem Baumstamm verborgen sein oder so, wie bei Ben Krämer, ganz woanders liegen. Er wandte sich ab. Mattis versuchte den Grizzly in seine Höhle zu locken, aber er reagierte nicht auf seine Rufe. Er hörte sie nicht, er wollte sie nicht hören. Nach einer Weile gab Mattis auf. Er hielt ein rotes Halstuch in den Händen und übergab es der Spurensicherung.
Kraft kam atemlos zurück. Muschalik nickte ihm zu. Regentropfen fielen von seiner karierten Schirmmütze wie Perlen. Als sie nebeneinander standen, flüsterte Kraft: »Es ist gefährlich im Zoo, Lorenz. Geh lieber auf
Weitere Kostenlose Bücher