Ferien vom Ich
zu besprechen hätten und die auch gleich gingen. Trotzdem fühlte sich die gute Mutter Barthel bemüßigt, uns die kleine Sprecherin vorzustellen. »Das ist nämlich unsere Lehrerin, Fräulein Annelies von Grill.«
Anneliese von Grill! Ein prüfender Blick in die großen braunen Augen, und ich hatte die Identität mit dem kleinen Majorstöchterlein festgestellt, das manchmal in Waltersburg zu Besuch gewesen war und das ich - da ich acht Jahre älter war - immer etwas onkelhaft begönnert hatte. Nun stand ich ihr lachend gegenüber und fragte sie, ob sie nicht mehr wisse, wer ich sei. Da erkannte sie auch mich, und es gab ein fröhliches Wiedersehen und große Verwunderung über die Umstände, unter denen es geschah. Ihre Lebensgeschichte war kurz: der Vater früh gestorben, die Mutter auf eine kleine Pension angewiesen und knapp imstande, aus ihr eine Lehrerin zu machen, die nun vertretungsweise in diesem Dorfe angestellt war.
Auf einmal fragte die sehr wohllautende Altstimme der Blondine:
»Das ist doch nicht etwa der Doktor von dem Waltersburger Sanatorium Ferien vom Ich?«
»Allerdings, meine Gnädigste, dieser Doktor bin ich.«
Das Mädchen brach in klingendes, lautes Gelächter aus. »Also, das sag’ ich Ihnen, wenn mir die Wahl gelassen worden wäre, wen ich sehen wolle, Sie oder den Kaiser von Hinterindien in all seiner Pracht und Herrlichkeit - ich hätte mich für Sie entschieden.«
»Ich freue mich, daß ich Ihnen so interessant bin«, sagte ich.
»Oh, interessant ist gar kein Ausdruck. Wir stehen Kopf über Sie! Jetzt fehlte bloß noch, daß jener Herr dort der Mister Stefenson aus Amerika wäre.«
»Das ist er!« mischte sich Emil Barthel ein, »es ist der Herr Mister aus Amerika.«
Stefenson verneigte sich phlegmatisch.
»Also, Herrschaften, dann müssen Sie schon erlauben, daß wir uns etwas zusammensetzen und diese kostbare Begegnung genießen.«
Dieses Mädel hatte einen burschikosen Ton an sich, und ich bat Anneliese von Grill, uns zunächst mal mit ihr bekannt zu machen. Die Blonde stellte sich aber selbst vor.
»Ich bin eine nach meiner eigenen Meinung außerordentlich begabte Opernsängerin ohne Engagement, gegenwärtig zu Besuch bei meiner Freundin Anneliese, um in der paradiesischen Einsamkeit dieses winterlichen Dorfes Ferien vom Ich zu machen. Mit Künstlernamen bin ich Irmingard Schwarzeneck, bürgerlich höre ich auf den Namen Eva Bunkert und bin die Tochter des Baumeisters August Bunkert in Neustadt.«
Wir sahen der Tochter unseres grimmigsten Konkurrenten aus der feindlichen Nachbarstadt verdutzt in das strahlende Gesicht, und das Mädchen brach wieder in fröhliches Lachen aus.
»Es scheint, daß wir Sie sehr belustigen, mein gnädiges Fräulein.«
»Außerordentlich! Ist es nicht immer lustig, wenn Waltersburg und Neustadt aufeinanderplatzen?«
Wir nahmen Platz und saßen alle um den runden Bauerntisch. Emil Barthel sagte:
»Siehste Mutter, du hast gesagt, es sind Schwindler, und ich hab’ gesagt, höchstwahrscheinlich, aber man kann ja nich wissen, und da hab’ ich wieder mal recht gehabt.«
»Und nun, Herrschaften«, rief Fräulein Bunkert, »es mag so indiskret sein, wie es wolle, ich muß wissen, was Sie hier bei Vater und Mutter Barthel zu tun haben; ich sterbe sonst vor Neugier.«
Und Stefenson - ach, Stefenson betrachtete das Mädchen mit unverhohlenem Wohlgefallen. Er sagte mir hinterher, sie sei »sein Typ«. Groß, schlank, blond, übermütig. Da gehe er halt auch mal aus sich heraus.
Er ging sehr aus sich heraus. Diese Eva Bunkert war eine Eva in des Wortes wahrster Bedeutung, mit allen Künsten, Listen und Teufeleien des Weibervolks ausgestattet. Sie machte die tollsten Anstürme auf den biederen Stefenson. Damals, sagte sie, als er die Neustädter mit den Zeitungsartikeln hereingelegt habe, habe sie auf die Gefahr hin, in ihrer Vaterstadt gelyncht zu werden, gesagt: dieser Mann sei zum Küssen. (Bei diesen Worten schlug Stefenson die Augen nieder und zog seinen dünnen Mund gewaltig in die Breite.) Daß er, Stefenson, in einer so öden Spießergegend wie Waltersburg und Neustadt einen so grandiosen Ulk wie dieses Ferienheim inszeniere, sei vielleicht der beste Witz der Weltgeschichte. Sie denke sich unser Heim als eine immerwährende Maskerade, als einen Bauernball ohne Ende, als einen Fasching ad infinitum. Und diese schweren Beleidigungen unserer großen erhabenen Idee ließ Stefenson über sich ergehen, zuckte kaum manchmal die Schultern, und er
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