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Fern wie Sommerwind

Fern wie Sommerwind

Titel: Fern wie Sommerwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrycja Spychalski
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zieht los, um seine App zu testen. Er verrät noch nichts, tut total geheimnisvoll.
    Ruth und Rocco laufen ein Stück in die andere Richtung, nehmen heimlich die Wodkaflasche mit und kichern, als hätten sie Mama aus ihrem Geheimfach Süßigkeiten geklaut.
    Martin und ich setzen uns auf die Klippen, mit Blick aufs Feuer, damit nichts außer Kontrolle gerät.
    »So. Das ist dann wohl jetzt der Zeitpunkt«, sagt Martin und zieht an seiner Zigarette.
    »Wofür?« Ich spüre, wie mir die Hitze in die Wangen steigt und blicke angestrengt auf den Boden.
    »Um sich Dinge aus dem Leben zu erzählen.«
    »Ah.« Erleichterung.
    »Soll ich anfangen?«, fragt Martin und reicht seine Zigarette an mich weiter. Ich nehme sie und nicke. »Okay. Aber, na ja, es ist nicht unbedingt spannend.«
    »Was machst du, wenn du kein Popcorn verkaufst?«, frage ich und haue auf meinen Oberschenkel, wo sich eine Mücke durch meine Jeans piekst.
    »Oh. Na gut. Ich arbeite in einer Bar. Neben der Schule. Abends. Ich trage dann so eine enge schwarze Jeans, Hemd und Hosenträger. Sehe total anders aus. Eigentlich bin ich noch zu jung, um Barkeeper zu sein, aber die Bar gehört meinem Onkel. Ich mixe Drinks, bediene den Plattenspieler. Düstere Musik, Kettenraucher, Whiskeytrinker. Die totale gepflegte Selbstzerstörung. Ich mag die Leute, wie sie so dasitzen, stundenlang an der Bar hängen. Sind ganz andere Leute als das gewöhnliche Kneipenvolk. Eher so Künstler und Philosophen, die an der Küste ihre Kur machen oder Inspiration suchen. Manchmal sprechen sie gar nicht. Sitzen da und denken über Gott und die Welt nach, hören der Musik zu.« Er hält kurz inne und überlegt. »Aber so werden wie die, möchte ich nicht. Nur so ein Gefühl.« Er nimmt mir wieder die Zigarette aus der Hand, dabei berühren sich unsere Finger. »Das Schönste ist im Winter … gegen drei, wenn die letzten Gäste raustorkeln, dann höre ich die letzte Platte, irgendeinen Mainstreampop. Dabei räume ich auf: Flaschen zuschrauben, die klebrigen Flecken aufwischen, alle Gläser ausspülen, die Stühle hochstellen. Dann trete ich raus in die Nacht, in die feuchte, kalte Luft, und im ersten Moment verschlägt es mir den Atem, aber schon im zweiten Moment öffnen sich wieder alle verklebten Poren und saugen diese Luft auf. Es ist wie eine Erlösung.«
    »Das hört sich gut an.« Ich vergrabe die Hände in meinen Jackenärmeln, es wird langsam kühl.
    »Findest du?« Er sieht mich an, blickt in meine Augen, als würde er dort etwas suchen.
    »Ja. Ich finde das schön. Ist doch ein gutes Kontrastprogramm zu dem hier. Immer diese frische Seeluft, pfui, da braucht man doch mal den Alkoholdunst und den Qualm.«
    »Jetzt bist du dran«, fordert er mich auf.
    »Ich arbeite in keiner Bar. Ich arbeite überhaupt nicht. Ich liege den ganzen Tag im Bett und stelle mir mein Leben vor.« Ich lache. »Nein, im Ernst. Ich stelle mir wirklich oft mein Leben vor. Das ist fast schon wie Arbeit. Ich stelle mir zum Beispiel vor, wie ich mit einem knallroten klapprigen Fahrrad durch die Straßen fahre. Ich weiß nicht, wo das herkommt. Ob ich das mal in einem Film gesehen habe oder im Traum, aber das Bild ist ständig da. Ich warte regelrecht auf Situationen in meinem Leben, wo mir so ein klappriges Rad über den Weg läuft, an mir vorbeifährt, oder was auch immer. Und es ist völlig bescheuert, ich weiß das, aber ich glaube, dass mein Leben mit so einem Fahrrad eine ganz andere Wendung nehmen könnte.« Ich hebe einen Stock vom Boden auf und halte ihn ins Feuer. »Man, jetzt wo ich das erzählt habe, wirkt das noch seltsamer als sowieso schon«, stelle ich fest. Aber etwas ist komisch. Nämlich, dass ich mich zwar wieder irgendwie schäme für diese komischen Sachen, die in meinem Kopf so vorgehen, aber wenn ich Martin ansehe, dann habe ich das Gefühl, dass er es versteht. Dass er meine seltsamen Gedankengänge versteht oder zumindest okay findet.
    Bevor ich mich dazu aufraffen kann, ihm das auch zu sagen, hört man etwas weiter weg Äste knacken und James’ Stimme, die ruft: »Stirb!«, und dann noch, »Fuck!«.
    Martin und ich springen auf, vergessen das Feuer und rennen in den Wald. Die Finsternis hüllt uns ein. Wann ist es so dunkel geworden? Ich greife nach Martins Arm, greife aber ins Leere. Ich drehe mich im Kreis, versuche das Ästeknacken zu orten. »James?«, rufe ich und dann, »Martin?«. Von weiter weg vernehme ich ein leises »Hier«.
    Ich gehe in die Hocke, schließe meine

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