Ferne Ufer
aufzuklauben. Er legte mir die Hand auf den Arm.
»Nein. Nein, es tut mir nicht leid. Natürlich nicht!« Sein Mund zuckte. »Aber ich will nicht leugnen, daß sie ein Schock für mich ist, Sassenach. Genau wie du.«
Ich sah ihn an. Immerhin hatte ich Monate Zeit gehabt, mich darauf vorzubereiten, und trotzdem waren mir die Knie weich geworden und mein Magen hatte sich verkrampft. Und ihn hatte mein Erscheinen wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Kein Wunder, daß er ein bißchen ins Wanken geraten war.
»Das kann ich mir vorstellen. Tut es dir leid, daß ich gekommen bin?« fragte ich und schluckte. »Möchtest du, daß ich wieder gehe?«
Er umklammerte meine Arme so fest, daß ich leise aufschrie. Als er merkte, daß er mir weh tat, lockerte er seinen Griff. Bei meiner Frage war er blaß geworden. Er holte tief Luft und atmete langsam aus.
»Nein«, sagte er entschieden. »Das will ich nicht. Ich…« Abrupt hielt er inne und biß die Zähne aufeinander. »Nein«, wiederholte er mit Bestimmtheit.
Mit der einen Hand nahm er die meine, mit der anderen sammelte er die Fotos auf. Er legte sie auf seine Knie und betrachtete sie mit geneigtem Kopf, so daß ich sein Gesicht nicht sehen konnte.
»Brianna«, sagte er leise. »Du sprichst es falsch aus, Sassenach. Sie heißt Brianna.« Er sagte den Namen mit einem seltsamen Hochlandrhythmus, so daß die erste Silbe betont und die zweite fast unhörbar wurde. »Brianna.«
»Brianna?« fragte ich amüsiert. Er nickte, ohne den Blick von den Bildern zu wenden.
»Brianna«, sagte er. »Ein schöner Name.«
»Freut mich, daß er dir gefällt.«
Er blickte auf und schaute mir in die Augen. In einem Mundwinkel verbarg sich ein Lächeln.
»Erzähl mir von ihr.« Mit dem Zeigefinger zog er die rundlichen Züge des Kleinkinds im Schneeanzug nach. »Wie war sie als kleines Mädchen? Was war ihr erstes Wort?«
Er zog mich näher zu sich heran, und ich kuschelte mich an ihn. Er war groß und kräftig und roch nach sauberem Leinen und Tinte und diesem warmen männlichen Geruch, der für mich ebenso aufregend wie vertraut war.
»Hund«, sagte ich. »Das war ihr erstes Wort. Das zweite war ›Nein!‹«
Sein Lächeln wurde breiter. »Aye, das lernen sie alle schnell. Sie mag also Hunde?« Er fächerte die Bilder auf wie Spielkarten und suchte das mit Smoky heraus. »Das ist ein schöner Hund. Welche Rasse?«
»Ein Neufundländer.« Ich beugte mich vor und blätterte die Fotos durch. »Hier ist noch eins mit einem Welpen, den ihr eine Freundin von mir geschenkt hat…«
Das trübe, graue Tageslicht war allmählich verblaßt, und seit einiger Zeit trommelte Regen aufs Dach, bevor unser Gespräch von einem lauten Knurren, das aus dem spitzenbesetzten Mieder meines Kleides drang, unterbrochen wurde. Seit dem Erdnußbutterbrot war schon eine ganze Weile vergangen.
»Hunger, Sassenach?« fragte Jamie überflüssigerweise.
»Jetzt, wo du es erwähnst. Bewahrst du in der obersten Schublade immer noch etwas zu essen auf?« Als wir jung verheiratet waren, hatte ich mir angewöhnt, in der obersten Kommodenschublade eine Kleinigkeit bereitzuhalten, da Jamie eigentlich immer Appetit hatte.
Er lachte und streckte sich. »Aye. Aber im Augenblick ist nicht viel da außer ein paar alten Haferkuchen. Am besten nehme ich dich mit in die Taverne und…« Plötzlich sah er nicht mehr glücklich, sondern erschrocken aus.
»Die Taverne! Mein Gott! Ich habe Mr. Willoughby vergessen!« Bevor ich einen Ton sagen konnte, war er auf den Beinen und wühlte in der Kommode nach frischen Strümpfen. Als er schließlich
fündig wurde, hielt er in der einen Hand die Strümpfe und in der anderen zwei Haferkuchen, die er mir in den Schoß warf. Dann ließ er sich auf dem Hocker nieder und zog hastig die Strümpfe an.
»Wer ist Mr. Willoughby?« Ich biß in einen der Kuchen, daß es nur so bröselte.
»Verdammt«, sagte er mehr zu sich als zu mir. »Ich habe versprochen, daß ich ihn mittags abhole, aber das ist mir völlig entfallen! Es muß jetzt schon bald vier sein!«
»Das stimmt. Ich habe die Uhr vor einer kleinen Weile schlagen hören.«
»Verdammt!« Rasch schlüpfte er in ein Paar Schnallenschuhe, nahm seinen Mantel vom Haken und blieb dann in der Tür stehen.
»Kommst du mit?« fragte er ängstlich.
Ich leckte mir die Finger, stand auf und legte meinen Mantel um.
»Eine Herde wilder Pferde könnte mich nicht aufhalten.«
25
Das Freudenhaus
»Wer ist Mr. Willoughby?« erkundigte
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