Ferne Ufer
weg.
»Es ist nicht wichtig«, sagte er. Auch er zog seine Hand von meinem Mund.
»Nein«, sagte ich. »Es spielt keine Rolle.« Ich zeichnete die Linie seiner Lippen mit dem Finger nach.
»Also sag mir, was du auf dem Herzen hast«, bat ich. »Wenn wir genug Zeit haben.«
Er warf einen Blick aus dem Fenster, um den Sonnenstand einzuschätzen - wir wollten uns mit Ian um fünf Uhr in der Druckerei treffen und hören, wie die Suche nach seinem Sohn verlaufen war. Vorsichtig löste er sich von mir.
»Wir haben noch mindestens zwei Stunden. Steh auf und zieh dich an, dann bestelle ich uns Wein und Kekse.«
Das hörte sich wunderbar an. Seit ich ihn gefunden hatte, war ich ständig am Verhungern. Ich setzte mich auf und suchte in dem Kleiderhaufen am Fußboden nach dem Korsett, das zu dem tiefausgeschnittenen Kleid gehörte.
»Traurig bin ich überhaupt nicht, aber ich schäme mich ein bißchen«, bemerkte Jamie.
»Warum denn das?«
»Nun, weil ich hier mit dir bei Wein und Keksen wie im Paradies sitze, während Ian die Stadt durchkämmt und sich Sorgen um seinen Sohn macht.«
»Machst du dir auch Sorgen um deinen Neffen?« fragte ich, während ich das Korsett zuschnürte.
Er runzelte die Stirn und zog die seidenen Strümpfe hoch.
»Nein, um ihn weniger. Ich befürchte nur, daß er erst morgen wieder auftaucht.«
»Was geschieht denn morgen?« fragte ich, doch dann fiel mir Sir Percival Turner wieder ein. »Ach, diese Reise in den Norden - soll die morgen sein?«
Er nickte. »Aye, da habe ich eine Verabredung an der Mullen’s Cove, weil morgen Neumond ist. Ein Fischkutter aus Frankreich mit einer Ladung Wein und Kambrik.«
»Und Sir Percival wollte dir raten, diese Verabredung nicht einzuhalten?«
»Scheint so. Was geschehen ist, weiß ich nicht, aber ich werde es wohl rausfinden. Vielleicht macht irgendein Zollbeamter eine Dienstreise in den Distrikt, vielleicht hat er von einem Vorgang an der Küste gehört, der mit uns zwar nichts zu tun hat, aber trotzdem stören könnte!« Er zuckte die Achseln und befestigte sein Strumpfband.
Er legte die Hände auf die Knie und zog die Finger nach innen. Die linke ballte sich rasch zur kampfbereiten Faust, während die Finger seiner rechten Hand nur widerstrebend gehorchten. Der Mittelfinger war gekrümmt und wollte sich nicht neben den Zeigefinger legen, der Ringfinger blieb ganz steif.
Lächelnd blickte er zu mir auf.
»Erinnerst du dich noch an die Nacht, als du meine Hand eingerichtet hast?«
»Manchmal in besonders schrecklichen Augenblicken.« Jene Nacht war mir in der Tat unvergeßlich geblieben. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit war es mir gelungen, Jamie aus dem Wentworth-Gefängnis zu retten, wo ihn die Hinrichtung erwartete - aber nicht rechtzeitig, um zu verhindern, daß er von Black Jack Randall grausam gefoltert und vergewaltigt wurde.
»Das war meine erste orthopädische Operation«, bemerkte ich gequält.
»Hast du so etwas seither öfter gemacht?« fragte er neugierig.
»Ja, einige Male. Ich bin Chirurgin - aber das bedeutet nicht dasselbe wie hier«, fügte ich hastig hinzu. »In meiner Zeit sind Chirurgen keine Wundärzte, die Zähne ziehen und die Leute zur Ader lassen, sondern eher Ärzte mit einer allgemeinen medizinischen Ausbildung und einem Spezialgebiet.«
»Spezialgebiet? Na, speziell warst du ja schon immer«, meinte er grinsend. Die verkrüppelten Finger schoben sich in meine Hand, und sein Daumen liebkoste meine Knöchel. »Was macht denn ein Chirurg, was so speziell ist?
Stirnrunzelnd suchte ich nach den rechten Worten. »Wie soll ich es am besten erklären - ein Chirurg versucht die Heilung… mit Hilfe eines Messers herbeizuführen.«
Sein breiter Mund verzog sich zu einem Lächeln.
»Ein schöner Widerspruch, aber er paßt zu dir, Sassenach.«
»Tatsächlich?« fragte ich verblüfft.
Er nickte, ohne die Augen von mir zu wenden. »Ja«, meinte er, »ein Messer ist wie du, wenn ich es mir recht überlege. Außen eine kunstvolle, herrlich anzusehende Scheide, Sassenach, aber innen steckt gehärteter Stahl… mit einer teuflisch scharfen Klinge.«
»Teuflisch?« fragte ich überrascht.
»Nicht herzlos, das meine ich nicht.« Aufmerksam und neugierig sah er mich an. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Nein, das nicht. Aber du kannst stark und rücksichtslos sein, Sassenach, wenn es von dir verlangt wird.«
Ich lächelte gequält. »Das kann ich.«
»Das habe ich schon früher an dir erlebt, aye?« Seine Stimme
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