Ferne Ufer
Arzneimittel«, versicherte ich ihm. »Man muß es jedoch sehr vorsichtig anwenden. Äußerlich hilft es gegen Rheumatismus, aber oral verabreicht senkt schon eine winzige Menge den Herzschlag. Das ist gut bei bestimmten Herzleiden.«
»Wirklich?« Hilflos zwinkernd wandte sich der Apotheker wieder seinen Regalen zu. »Wissen Sie vielleicht, wie es riecht?«
Diese Worte faßte ich als Einladung auf, umrundete den Ladentisch und begann, die Gefäße durchzusehen. Sie waren sorgfältig beschriftet, aber die Etiketten waren offensichtlich alt, die Tinte verblichen, und das Papier löste sich an den Rändern.
»Ich fürchte, ich kenne mich mit den Arzneien noch nicht so gut aus wie mein Vater«, sagte der junge Haugh. »Er hat mir viel beigebracht, aber dann ist er vor einem Jahr gestorben, und hier stehen Dinge, über deren Anwendung ich nichts weiß.«
»Dies ist gut gegen Husten«, sagte ich, nahm ein Gefäß mit Allant aus dem Regal und warf einen Seitenblick auf den ungeduldigen Reverend, der sich ein Taschentuch vor den Mund hielt und asthmatisch keuchte. »Vor allem bei krampfartigem Husten.«
Stirnrunzelnd ließ ich den Blick über die vollen Regale wandern. Alles war makellos abgestaubt, aber offenbar weder alphabetisch noch nach botanischen Kriterien geordnet. Hatte der alte Mr. Haugh einfach gewußt, wo die Dinge standen, oder hatte er irgendein System entwickelt? Ich schloß die Augen und versuchte, mich an meinen letzten Besuch in diesem Geschäft zu erinnern.
Zu meiner Überraschung stellte sich das Bild mühelos ein. Ich hatte damals Fingerhut geholt, um Tee für Alex Randall zuzubereiten, den jüngeren Bruder von Jonathan Randall - und Franks Ahnherr. Der arme Kerl war nun schon seit zwanzig Jahren tot,
hatte aber vorher noch einen Sohn gezeugt. Beim Gedanken an diesen Sohn und seine Mutter, die meine Freundin gewesen war, packte mich die Neugier, aber ich schob den Gedanken beiseite und beschwor wieder das Bild von Mr. Haugh herauf, der in sein Regal hinaufgriff, und zwar zu meiner Rechten…
»Dort.« Ich griff ins Regal, und tatsächlich fand ich ein Gefäß mit der Aufschrift FINGERHUT. Daneben stand eins mit der Aufschrift SCHACHTELHALM und auf der anderen Seite eins mit MAIGLÖCKCHENWURZEL. Lauter Herzmittel. Wenn es in der Apotheke Eisenhut gab, mußte er bei diesen Kräutern zu finden sein.
So war es. Ich fand ihn nach kurzer Zeit in einem Gefäß mit der Aufschrift STURMHUT.
»Seien Sie vorsichtig damit.« Ich legte das Gefäß behutsam in Mr. Haughs Hände. »Selbst eine kleine Menge davon läßt die Haut taub werden. Vielleicht könnten Sie es mir in ein Glasfläschchen abfüllen.« Die meisten Kräuter, die ich gekauft hatte, waren in Gazetücher oder Papier eingewickelt worden, doch der junge Mr. Haugh nickte und trug das Gefäß mit dem Eisenhut mit ausgestreckten Armen ins Hinterzimmer, als rechnete er damit, daß es jeden Augenblick explodierte.
»Anscheinend wissen Sie erheblich mehr über Arzneimittel als der junge Mann«, sagte eine tiefe, heisere Stimme hinter mir.
Ich drehte mich um; der Geistliche lehnte am Ladentisch und sah mich aus hellblauen Augen an. Mit einem Schlag wurde mir klar, wo ich ihm schon einmal begegnet war - am Tag zuvor bei Moubray’s. Allem Anschein nach erkannte er mich nicht; vielleicht weil mein Umhang mein Kleid bedeckte. Mir war aufgefallen, daß viele Männer das Gesicht einer Frau en décolletage kaum wahrnahmen, obwohl mir diese Eigenheit bei einem Mann der Kirche fehl am Platz erschien. Er räusperte sich.
»Mmmpf. Und wissen Sie auch, was man bei einem nervösen Leiden tun kann?«
»Welcher Art ist das nervöse Leiden?«
Er verzog den Mund und runzelte die Stirn, als wäre er nicht sicher, ob er mir vertrauen konnte.
»Nun… es ist ein komplizierter Fall. Doch allgemein gesprochen…« - er musterte mich eingehend -, »was würden Sie bei einem… einem Anfall verabreichen?«
»Ein epileptischer Anfall? Bei dem die Person hinfällt und zuckt?«
»Nein, eine andere Art von Anfall. Schreien und Starren.«
»Schreien und Starren?«
»Nicht gleichzeitig, wissen Sie«, fügte er hastig hinzu. »Erst das eine, dann das andere - oder besser gesagt, abwechselnd. Zuerst starrt sie tagelang nur vor sich hin und schweigt, und dann fängt sie plötzlich an zu schreien, als wollte sie die Toten auferwecken.«
»Das klingt sehr nervenaufreibend.« In der Tat, wenn er eine Frau hatte, die von einem solchen Leiden heimgesucht wurde, waren seine
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