Ferne Ufer
es nicht normal für einen Jungen in diesem Alter, Abenteuer erleben zu wollen? Du und ich waren nicht anders.«
»Das mag ja sein, aber auf jeden Fall sollte er nicht die Abenteuer
erleben, die du ihm bescherst«, unterbrach Jenny streng. Sie schüttelte den Kopf, und die Falte zwischen den Augenbrauen wurde tiefer, als sie ihren Bruder mißbilligend anblickte. »Gott hat ein Auge auf dich, Jamie, sonst wärst du schon ein dutzendmal gestorben.«
»Aye, vermutlich hat er noch was mit mir vor und läßt mich daher nicht im Stich.« Jamie schaute mich lächelnd an und suchte meine Hand. Jenny warf mir einen unergründlichen Blick zu, bevor sie den Faden wiederaufnahm.
»Wie dem auch sei«, sagte sie, »ich bin mir nicht sicher, ob das auch für unseren Sohn gilt.« Ihr Gesichtsausdruck wurde etwas weicher, als sie Jamie ansah.
»Ich weiß nicht, wie du lebst, Jamie, aber ich kenne dich gut genug, um zu wissen, daß es kein Leben für einen kleinen Jungen ist.«
»Mmmpf.« Jamie strich sich mit der Hand über das stoppelige Kinn und machte noch einen Anlauf. »Aber genau das meine ich. Er hat sich in der letzten Woche wie ein Mann benommen. Ich finde es nicht in Ordnung, daß du ihn wie einen kleinen Jungen verprügeln willst, Ian.«
Jenny runzelte verächtlich die Brauen.
»Er, ein Mann? Er ist doch fast noch ein Kleinkind, Jamie. Er ist erst vierzehn.«
Trotz seiner Verärgerung hob sich einer seiner Mundwinkel.
»Ich war mit vierzehn ein Mann, Jenny«, sagte Jamie leise.
Sie schnaubte, doch ihre Augen wurden feucht.
»Du hast gedacht, du wärst einer.« Sie erhob sich und wandte sich abrupt ab. »Aye, ich erinnere mich noch gut.« Sie wandte sich mit dem Gesicht zum Bücherregal und stützte sich darauf, als suchte sie Halt. »Du warst ein schneidiger Kerl, Jamie, als du, den blinkenden Dolch am Schenkel, mit Dougal in deinen ersten Kampf geritten bist. Ich war sechzehn, und ich hatte nie zuvor jemanden gesehen, der so gut ausgesehen hat wie du auf deinem Pony, so aufrecht und groß. Dann bist du zurückgekehrt, verdreckt von oben bis unten, mit einem Kratzer im Gesicht, weil du in die Brombeeren geflogen bist. Wie stolz Dougals Vater von dir berichtet hat, wie mutig du die Gegner in die Flucht geschlagen hast. Als dir ein Breitschwert eine Beule auf die Stirn geschlagen hat, ist dir kein Muckser über die Lippen gekommen.« Nachdem sie die
Fassung wiedergefunden hatte, wandte sie sich zu ihrem Bruder um. »Das ist ein ganzer Mann, aye?«
Jamie schmunzelte.
»Na ja, vielleicht gehört noch ein wenig mehr dazu«, räumte er ein.
»Ach, wirklich? Und was? Bei einem Mädchen zu liegen? Oder einen Mann zu töten?«
Ich war immer der Meinung gewesen, daß Jenny Fraser über eine gewisse Hellsichtigkeit verfügte, insbesondere was ihren Bruder betraf. Offensichtlich gelang es ihr auch bei ihrem Sohn. Jamies Wangen röteten sich noch mehr, aber er verzog keine Miene.
Bedächtig schüttelte sie den Kopf, ohne den Blick von ihrem Bruder abzuwenden. »Nein, der junge Ian ist noch kein Mann, aber du bist einer, Jamie. Und du kennst den Unterschied verdammt gut.«
Ian, der den hitzigen Wortwechsel zwischen den beiden Frasers ebenso gebannt verfolgt hatte wie ich, räusperte sich.
»Das ist jetzt einerlei«, fuhr er dazwischen, »Ian wartet bereits eine Viertelstunde auf seine Strafe. Ob es nun richtig ist, ihn zu verprügeln oder nicht, auf alle Fälle ist es grausam, ihn länger auf die Folter zu spannen.«
»Mußt du es wirklich tun, Ian?« setzte Jamie zu einem letzten Versuch an.
»Tja«, erklärte Ian, »jetzt habe ich dem Jungen gesagt, daß er mit Prügeln rechnen muß, und er weiß genau, daß er sie auch verdient. Ich kann mein Wort nicht zurücknehmen. Aber ich habe nicht vor, es selbst einzulösen.« Aus seinen braunen Augen blitzte der Schalk. Er griff in eine Schublade der Anrichte und nahm einen breiten Lederriemen heraus, den er Jamie in die Hand drückte. »Diese Aufgabe übernimmst du.«
»Ich?« Jamie erstarrte vor Schreck. Er versuchte, Ian den Riemen zurückzugeben, doch sein Schwager wehrte ab. »Ich kann den Jungen nicht auspeitschen.«
»Aber ja doch«, entgegnete Ian und verschränkte die Arme. »Du hast oft genug erklärt, du liebtest ihn wie einen eigenen Sohn.« Freundlich, aber entschlossen blickte er ihn an. »Ich sage dir, Jamie… es ist nicht so einfach, sein Vater zu sein. Am besten, du überzeugst dich selbst davon.«
Jamie blickte zunächst auf Ian, dann auf seine
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